Briefwechsel Eck - Übersicht Reformationsgeschichte
Nr. 1
Eck an Jakob Maurmiller Freiburg 1505

München UB cod 4 Nr 800, fol 30rv - Briefmappe 1, 147f

Maurmiller hat Eck bereits mehrfach um Zusendung von Exzerpten aus der >Philosophia Moralis< des Johannes Buridanus gebeten. Die Vernachlässigung der Moralphilosophie ist beklagenswert, da die Lehre von den Tugenden und Lastern von äußerster Wichtigkeit für die Bildung des Menschen ist. Das betrifft besonders die zwei schlimmsten Laster der Jugend: Trunksucht und Wollust. Auf die praktische Seite der Ethik, das >Gut-Sein<, ist, wie Aristoteles fordert, daher besonderer Wert zu legen. Eck will daher in Kürze die >Ethica Nicomachea< des Aristoteles herausgeben und als wichtige Vorarbeiten ethische Texte des rühmenswerten Jakob Faber Stapulensis und als Anhang einige ethische >Quaestiuncula< des Johannes Buridanus, um die Maurmiller so inständig gebeten hat. Eck bittet ihn, seine Arbeiten günstig aufzunehmen.
 
Rogasti (1) sepissime Mi Jacobe (2),
ut aliquas in >Philosophiam Moralem< (3) ex Johanne Buridano (4) in ethicis profecto peritissimo excerperem questiones sepius conquestus de nobilissime illius Philosophie partis (5) defectu, ut quemadmodum virtuose in noster contabescerent actiones, sic et ars illa minime amplecteretur aut coleretur (6)

Facis tu sane, Mi Jacobe, quod pauci mostre faciunt etatis adulescentes (7), qui ita virtutis duceris studio, tam fervide, tam cupide et avide rogitans, ut ingenuam virtutum scientiam adipiscaris, ac recte quidem. 

Quid enim peius et detestabilius est videre adulescente, quam negligere virtutes et amplecti vicia (8). Quis senium iucundum et quietum ibi sperare queat, ubi non nisi vicia et peccamina seminantur. >Adulescens enim iuxta viam suam gradiens, etiam cum senuerit, non recedet ab ea< (9). Proch dolor, duo video inter iuvenes vigere vicia, que inprimis detestanda sunt. Crapulam et item venerem (10), que quantum noceant, animosque ebetent ipse rerum eventus demonstrat. Quare dignum duxi tibi (tam iusta petenti) morem gerere, ne vel insolentior iudicer, si minus tue in me fidei responderem animumque tuum vegetum in bonarum artium disciplinis capessendis impedirem. Unum hoc volo: maneat alta mente tibi repositum, quod Aristoteles in secundo capitulo huius ait: >Nihil est bonum scire, nisi boni simus.< (11)

Brevibus igitur (quoad potero) quinque Deo volente evolvemus libros Aristotelis qui Ethicorum libri intitulantur, ubi primum Conclusiones Textuales (12) doctissimi et Philosophi et Theologi Jacobi Fabri Stapulensis (13), quo nullus moralior (14) aut latinior (15) nostra tempestate appellari potest, deinde adiectis parvissimis ex Joanne Buridano questiunculis, ut petis et tantopere desideras.

Quare benivolo gratoque animo haec accipe laboris monumenta.

Moneo igitur, qui praeambularem et talem (16)...
 

Mein Jakob: Du hast mich sehr oft gebeten,
für Dich einige Quästionen aus der Moralphilosophie des JOHANNES BURIDAN, der in ethischen Fragen besonders erfahren ist, zu exzerpieren, und Du hast Dich öfters über den Verfall jenes hervorragenden Teils der Philosophie beklagt, daß nämlich, wie bei uns tugendhaftes Handeln zunehmend nachläßt, auch jene Wissenschaft nur noch wenig geschätzt und gepflegt wird.

Du selbst freilich, mein Jakob, handelst, wie in unserer Gegenwart nur wenige Jünglinge, indem Du Dich vom Studium der Tugenden leiten läßt und so leidenschaftlich, so begierig und voller Verlangen danach strebst, reiche Kenntnis in der Wissenschaft von den Tugenden zu erlangen, und das auf rechte Weise.

Was ist nämlich schlimmer und verabscheuungswürdiger bei einem Jüngling zu sehen, als daß er die Tugenden vernachlässigt und sich den Lastern hingibt. Welcher reife Mann kann dort etwas Erfreuliches und Beruhigendes erhoffen, wo nur Laster und Verfehlungen vermittelt werden? Ein junger Mensch wandelt nämlich auf seinem Weg vorwärts und weicht auch im Alter von ihm nicht ab. O Schmerz, ich erkenne, daß unter den jungen Leuten besonders zwei Laster grassieren: Trunksucht und Unzucht. Wieviel Schaden diese anrichten und den Geist erschlaffen lassen, zeigt sich daran, welche Folgen sie zeitigen. Ich hielt Dich daher, der Du um eine so angemessene Sache bittest, für würdig, dieser Bitte zu entsprechen, um nicht als schnöde zu erscheinen, wenn ich nicht Deinem Vertrauen in mich entspreche und Deinem lebhaften Geist, der sich um die Artes bemüht, im Wege stehe. Eins aber möchte ich: bewahre hochgestimmten Sinnes, was ARISTOTELES im 2. Kapitel seiner >Nikomachischen Ethik< schreibt: >Wir philosophieren nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden.<

In kurzer Form, soweit ich es vermag, werden wir mit Gottes Hilfe die fünf Bücher des ARISTOTELES, die den Titel >Ethik< führen, ausbreiten, zunächst aber die Einleitung zur Ethik des Aristoteles von der Hand des gelehrten Philosophen und Theologen JAKOB FABER STAPULENSIS, den in Bezug auf Sitten und Eloquenz niemand übertrifft, dann die kleineren Quästionen des JOHANNES BURIDAN, wie Du erbittest und so sehr ersehnst. 

Nimm daher guten Willens und dankbar diese Zeugnisse meiner Mühen entgegen.
Ich beginne also und gehe mit einem Text voran, der den Titel trägt: >Die Ethik ist eine spekulative und eine praktische Wissenschaft.< 

1. Widmungsbrief zu einer geplanten Studienausgabe der >Nikomachischen Ethik< des Aristoteles. Die nicht gedruckte Schrift (vgl. auch Umwandlung der Zueignung) ist heute aufbewahrt in München UB cod 4 Nr 800, fol 29v-59v, Titel: 1505. Questiones Ioannis Eck in quinque libros Ethicorum Ad suos discipulos (gesetzt statt gestrichenem: >Iacobum Maurmiller Augustensem<) adiectis conclusionibus textus insignis viri Iacobi Fabri Stapulensis. In studio friburgensi [Wahlspruch:] spe vescor et aura. Vgl. zur gesamten Handschrift GÜNTHER, Geograph 142ff und RUGE, Kartographisches Material 64f.

2. Ein JACOB MURMILLER OESA wurde in Freiburg nach MÜLLER, Promotion 59 Baccalaureus biblicus am 03-09-1510; nach BAUER, Frühgeschichte 53 Anm. 178 soll er am 22-10-1510 an der Universität Freiburg zur Bibelvorlesung zugelassen worden sein und am nächsten Tag mit dem Kurs begonnen haben. In der Hs München UB, 4 cod ms. 800, ECK, Introductorium breve Cosmographicum, 1505 [Repetitionsvorträge zur Kosmographie] fol 2r hat sich ein Distichon von Maurmiller erhalten: >Ja. Maurmillerius [dann durchgestrichen:]
Sydera si cupis et mundum cognoscere et orbem
Eccia crede michi stita Minerva dabit.<

3. Die Einteilung der Philosophia Moralis erfolgt in Ethica, Oeconomia und Politica; vgl. ECK, Libros Ethicorum, bes. fol 32rv; ECK, Dialectica I, fol 8r.

4. Johannes BURIDANUS (1304/5 - 11-10-1358/60), französischer Philosoph und Theologe, bekannt durch seine Willenslehre (Buridans Esel); vgl. G. KRIEGER, Johannes Buridanus: LThK 5 (3.A.), 886; ders.: LMA 5, 558f (Lit.); B. MICHAEL, J.B., Diss., 2 Teile, Berlin 1985 (Lit.); Briefmappe 1, 148. Eck hatte 1500 (Datum in Marginalie) in Tübingen die Ethik nach Buridanus gehört (dessen Opera omnia sind 1500 in Paris erschienen): ECK, Chrysopassus fol Z 2v: >Deus vult poenam damnatorum; Vis habere fundamentum negotij vide Ioannem Buridanum Picardum Vuiennensis studij plantatorem [!] in Commentario Moralis philosophiae libro tertio quaestione VIIJ. Mixtae quidem sunt tales operationes, assimulantur autem magis voluntarijs, loquitur de talibus actibus qui partim inviti fiunt partim voluntarie fiunt, et ita esse communem magistrorum in Ethicis sententiam, memori mente tenuo me audijsse a Benedicto Farner iureconsulto nostro in Philosophi naturalis stipendia sub eo merebar.<

5. Zur Stellung der Moralphilosophie im gesamten philosophischen Kanon vgl. die Tabelle Ecks in ECK, Dialectica I, fol 8r.

6. Später legitimiert Eck seine Kompetenz in der Zinsfrage auch durch seine moralphilosophischen Kenntnisse: ECK, Großer Zinstraktat fol 228r: >...bonus moralis philosophus potest expedite in istis rationibus (sc. Zinsfrage) discurrere, et expeditius caeteris paribus, quam eius ignarus.<

7. Praktisch wurde er in seiner Zeit als Rektor der Bursa Pavonis (zu Begriff und Einrichtung vgl. Brief 03-06-1506) in Freiburg; so ermahnte er am 08-01-1507 >magistros, ut pro honore ipsorum et facultatis artium se mature et honeste gererent in prandis usque aliquis rixas incipiat, et si quis contra faceret, non impunis evadet.< Vgl. MAIER, Freiburg 11 Anm. 61.

8. In ECK, Postilla. Ander Theyl Fest fol 244/246 bietet Eck Tabellen mit Tugenden, Lastern, Seligkeiten etc., die er für Übungen zusammengestellt hat: >Aspice tabellas, quas tradidi pro scholis<. Vgl auch ECK, Homiliarum IV fol 40 (Predigt VI).

9. Sprichw 22, 6.

10. Gerade diese Laster wurden Eck selbst in der Reformationszeit von seinen Gegnern vorgeworfen, nicht zuletzt ausgelöst durch ungeschickte Äußerungen Ecks in seinem Brief vom 01-07-1519 an die Ingolstädter Professoren Burckhard und Hauer: >...cerevisia illa potentior me male accepit...Hic autem sunt Venereae Veneres, est omnino charitum civitas (Leipzig).< Vgl. hier auch die Satire von Ecks Lehrer in den Humaniora Bebel (vgl. ECK, Dialectica II fol 122r: >Bebelius olim in humanioribus literis preceptor noster<) aus dem Jahre 1502 >Triumphus Veneris<, wo Liebesgöttin und Tugend miteinander streiten. Vgl BINDER, Bebel 45 und 50.

11. ARISTOTELES, Nik. Ethik 2, 2 Einl.

12. FABER STAPULENSIS, Introductio in Aristotelis ethicam: J. SCHLECHT, Briefmappe 1, 148 vermutet, Eck habe die Ausgabe Paris 1500 benutzt.

13. Jakob FABER STAPULENSIS (eigentlich Jacques LEFEVRE D'ETAPLES; ca. 1450 Picardie - 1536), edierte Aristoteles, Nikolaus von Kues, Dionysius Areopagita, biblische Kommentare etc. und propagierte die Kirchenreform. Vgl. G. BEDOUELLE, Faber Stapulensis: TRE 10, 781ff u. Ch. KANN: LThK 3, (3.A.), 1146. Aus ECK, Meteora fol 95r, wo Eck ihn auch "insignis physicus" nennt, läßt sich indes kein Kontakt Ecks mit dem frz. Gelehrten ableiten, wie SCHAFF, Physik 33 meint.

14. Fabers Moralphilosophie galt als Hinführung zum "reinen Aristoteles" und wurde auch als humanistische Disziplin betrachtet: BAUCH, Wien 108f.

15. Faber ist für Eck in Fragen der Textkritik >erste Autorität in allen sprachlichen Belangen< und >absoluter Gewährsmann<: SEIFERT, Logik 21 und 41. Vgl. z.B. das Sprachspiel in ECK, Dialectica I fol8v: >Iacobus Faber Stapulensis vir faberrime eruditus<; auch ECK, Areopagita fol [B 5v]: >Iacobus Faber veterum rerum impense doctus< sowie zur Schreibweise von Hosianna oder Hosanna: ECK, Postilla. Der erste Theil Die ander Predigt am 6. Sontag in der Fasten fol 263v:>...quotquot autem annotarunt corrupte dici Osanna ut Stapulensis, Erasmus, Capnion, Clichthovaeus, Bebelius etc.<

16. Der Satz ist unvollendet.