Katechese des Spätmittelalters - ihre Bedeutung
für
die Gegenwart
2. Das
Spätmittelalter
als Ort der Begegnung mit dem Anderen und Fremden
Schriftverständnis:
vierfachter Schriftsinn:
Aktivierung des
Gedächtnisses
und Einübung in den Dialog mit dem Anderen sind so m.E. die
entsprechenden
Konsequenzen der Bedeutung der Geschichte. (1)
1.Das
Spätmittelalter
als Vorgeschichte der Reformation
Viele Ereignisse des
Spätmittelalters,
etwa die Verbrennung von Jan Hus, der Fall Konstantinopels, die
europäischen
Entdeckungs- und Eroberungsfahrten nach Afrika, Asien und Amerika,
haben
Auswirkungen bis in die Gegenwart. Die folgenden Ausführungen
beschränken
sich nur auf einen begrenzten Aspekt, nämlich auf die Frage einer
gemeinsamen christlichen Identität von Katholiken und
Protestanten.
Wenn für lutherische Identität vom Bezug zu Luther nicht
abzusehen
ist, gibt es keine konfessionsübergreifende christliche
Identität,
wenn gleichzeitig Luther für die katholische Seite aus dem
Gedächtnis
der Kirche zu tilgen ist. (2) Für
das
Spätmittelalter stellt sich die Frage der Identität nicht in
dieser Zuspitzung, doch ist sie auch hier nicht unerheblich. Bedeutet
etwa
lutherische Identität einen radikalen Bruch mit der katholischen
Vorgeschichte,
mit Scholastik und katholischer Theologie des Spätmittelalters, so
dürfte es schwer fallen eine grundlegende Gemeinsamkeit mit der
katholischen
Kirche der Gegenwart zu artikulieren, außer man erwartet von ihr,
sich von ihrer eigenen Vorgeschichte zu distanzieren. Im Sommer 1998
wollen
die römisch-katholische und lutherische Kirchen mit der
»Gemeinsamen
Erklärung zur Rechtfertigungslehre« einen zentralen
Kontroverspunkt
der Reformationszeit, der sich auch noch in der Gegenwart als
Kristallisationspunkt
konträrer Identitäten bemerkbar macht, hinsichtlich seiner
kirchentrennenden
Wirkung bereinigen. (3) Damit rückt
auch die Frage nach einer
gemeinsamen Bewertung der
spätmittelalterlichen
Position in den Vordergrund.
Luther und die lutherischen
Bekenntnisschriften
wenden sich gegen die spätscholastische Auffassung von Gabriel
Biel
(+1495), daß der Mensch allein aus natürlichen Kräften
ohne die Gnade Gott über alles lieben und so das Gesetz der Sache
nach, wenn auch nicht der Intention des Gesetzgebers nach,
erfüllen
kann. (4) Andererseits gibt es in der
spätmittelalterlichen
Theologie auch die Richtung des Augustinismus. (5)
Luther selbst schreibt den Anfang seiner Lehre einem Vertreter dieser
Position,
nämlich seinem Lehrer aus dem Augustiner-Orden, Johann von
Staupitz,
zu. (6)
Was die Katechese des
Spätmittelalters
betrifft, so kann diese hier nicht umfassend und repräsentativ
dargestellt
werden. Vielmehr sollen vor allem unter Berücksichtigung der neuen
Medien des Blockbuches und des Buchdrucks erste Eindrücke
vermittelt
werden.
Generell kann gesagt werden, daß die Hl. Schrift als
Ausgangspunkt
der Katechese eine grundlegende Rolle spielt. Dies zeigt sich auch
schon
in der großen Anzahl von deutschen Übersetzungen. So wurden
vor Luthers Übersetzung des Neuen Testaments 14 oberdeutsche und 4
niederdeutsche Übersetzungen der ganzen Bibel im Druck
veröffentlicht.
(7) Daneben findet sich eine nur schwer überschaubare
Fülle
von Übersetzungen einzelner biblischer Bücher, wie etwa der
Psalmen
oder auch der Paulusbriefe, und der im Gottesdienst verwandten
Lesetexte.
Wenn nach dem Verständnis von Rechtfertigung in der Katechese des Spätmittelalters gefragt wird, so ist dies nicht auf die Terminologie »Rechtfertigung allein durch den Glauben« einzugrenzen.
Die
Sachfrage selbst begegnet etwa in der Ars moriendi,
wenn der Teufel den
Sterbenden in die Verzweiflung zu führen versucht:
Der Engel steht dem
Sterbenden bei:
Daß
hier in der Sache eine Gemeinsamkeit zwischen lutherischer und
vorreformatorischer
Position gegeben ist, wurde auf lutherischer Seite bereits von Martin
Chemnitz
und Johann Gerhard anerkannt. (9) Diese
ist nicht mit dem Argument zu relativieren, daß dies nur für
die Todesstunde gelte und nicht für das übrige Leben. Die Ars
moriendi hat ja ausdrücklich das Ziel, daß „jeder die
Kunst
gut zu sterben ... oft vor Augen hat und sich seine Lage in seiner
letzten
Stunde im Geist immer wieder vorstellt" (10).
Aber auch die Aussage,
daß Gott barmherzig ist, gehört zum
Grundbestand
spätmittelalterlicher Katechese.
So wird etwa in der
Dekalogerklärung
von Marquard von Lindau (11), die
„zu
den
wirkungsmächtigsten deutschen religiösen Prosatexten des
Spätmittelalters
gehört" (12) zum Ersten Gebot
erläutert:
Gott anbeten heißt, an seinem Erbarmen nicht zu verzweifeln
(13). Bei der Erörterung des zweiten Gebots wird
ausdrücklich
gesagt: Mit allem, was man Gutes tut, mit Fasten und mit Beten, und was
man tun oder lassen mag, kann man Gott die Schuld der Sünde nicht
abgelten. Christus ist der „reiche Schatz, ... das kostbare
Kleinod,
mit
dem man dem Vater alle Schuld vergilt ... Sonst haben wir nichts, mit
dem
wir abgelten, denn alle unsere guten Taten wirkt Gott in uns und sind
sein
eigen." (14)
Bezüglich des
Ablasses
für die Verstorbenen wird dem Papst keine Gewalt über das
Fegfeuer
zugesprochen (15).
Eine Differenz zur
reformatorischen
Position liegt hingegen in der Auffassung vom endlichen Wert der Messe.
Ähnlich wie später Johannes Eck ist sich Marquard von Lindau
aber bewußt, daß es sich hierbei nur um die Meinung einer
schultheologischen
Richtung handelt. (16)
Im Rahmen dieses
Beitrages
ist es nicht möglich, die angesprochene Problematik umfassender zu
behandeln, doch zeigen bereits diese fragmentarischen Hinweise,
daß
nicht pauschal von einem radikalen Bruch zwischen Reformation und
spätmittelalterlicher
Theologie und Katechese gesprochen werden kann und daß eine
differenziertere
Sicht auch den Weg eröffnet zu einer gemeinsamen Wertung des
Spätmittelalters
als Teil der Vorgeschichte derer, die aufgrund der
wirkungsgeschichtlichen
Bedeutung von Geschichte sich noch heute als Angehörige
unterschiedlicher
Konfessionen vorfinden.
2.
Das
Spätmittelalter
als Ort der Begegnung mit dem Anderen und Fremden
Das
Schriftverständnis:
vierfachter Schriftsinn:
Auch wenn das
Spätmittelalter
zu unserer Vorgeschichte gehört, so ist es uns inzwischen weithin
fremd geworden.
Dies gilt auch für die Grundlage der
spätmittelalterlichen
Katechese, das Schriftverständnis.
Zur Erläuterung
wird neben Jacobus de Valentia,
Johannes
Gerson, Wilhelm Durandus von Mende und Gabriel Biel auf Baptista
Mantuanus
(+1516) verwiesen: Die Hl. Schrift enthalte nichts müßiges.
Der allegorische Schriftsinn
Die Theologie der
Gegenwart,
die sich die historisch-kritische Erschließung der Schrift als
großes
Verdienst anrechnet, hat besonders mit dem allegorischen
Schriftsinn
Schwierigkeiten.
J. Altenstaig nennt als Beispiel allegorischer Deutung
eines Wortes die Interpretation des Reises aus der Wurzel Jesse (Jes
11,1)
auf „Maria aus dem Stamme David, der ein Sohn Jesses war".
„Das durch
das
Blut des Lammes aus der ägyptischen Gefangenschaft befreite Volk"
bezeichnet in allegorischer Auslegung von Dingen und Ereignissen
(rerum)
»die durch das Leiden Christi aus der Gefangenschaft der
Dämonen
befreite Kirche«. Das Lamm ist Bild für Christus, die
weißen
Kleider und das Öl von Koh 9,8 bedeuten die guten Werke und die
Liebe.
Von besonderer Bedeutung
ist, wie schon aus diesen Beispielen deutlich
wird, der allegorische
Schriftsinn in der Deutung
des Alten Testaments.
Das Theologische Wörterbuch von J. Altenstaig verweist dabei auf
die
neutestamentlichen Vorgaben:
Durch die Aufteilung in
die unterschiedlichen
theologische
Fächer der Exegese des AT und der Exegese des NT fällt es der
modernen Theologie schwer, diesen Vorgaben gerecht zu werden. Dabei
geht
es jedoch um die Grundstruktur des neutestamentlichen christlichen
Umgangs
mit der Schrift:
Das heißt, der
historisch vieldeutige
Tod Jesu wird erst im Licht der Schrift des AT als Heilsereignis
qualifiziert,
z. B. durch den Bezug zu Paschalamm, Gottesknecht, der
erhöhten
Schlange
etc.
Auf dieser Linie ist
auch das theologische Konzept der im
Spätmittelalter
verbreiteten Biblia pauperum
zu sehen. (18)
Die Öffnung der Seite Christi - historisch gesehen Zeichen
des
eingetretenen
Todes - wird als Heilsvorgang interpretiert durch die Zuordnung
zu zwei
Öffnungsszenen aus dem Alten Testament:
1. der Öffnung der
Seite
Adams, aus der Eva hervorgeht, und 2. der Öffnung des
wasserspendenden
Felsen in der Wüste (vgl. 1 Kor 10,4). (19)
Texte und Ereignisse des Alten Testament haben so in dieser Dimension
des
allegorischen Schriftsinnes die Funktion der Bezeichnung und Deutung
dessen,
was in Christus geschah.
Dies besagt aber anderseits auch, daß
sie
selbst als Hinweiszeichen auf eine tiefere Wirklichkeit des Heils
verstanden
werden.
Die Errettung des Jona aus dem Bauch des Fisches deutet
einerseits
den Tod Christi: „Jona wurde verschlungen und blieb dennoch
unverletzt"
(20). Anderseits erhält die Geschichte von Jona als
Zeichen
der Errettung aus der Todessituation bleibende Gültigkeit, weil es
durch die Überwindung des Todes durch Christus für alle
Errettung
aus dem Tode gibt.
Der Heilsspiegel
(speculum
humanae salvationis) (21) ordnet
der
Szene
„Christus trägt sein Kreuz" u. a. das Bild von den
Kundschaftern
zu,
die mit der Traube aus dem verheißenen Land zurückkehren.
(22) Damit wird wiederum einerseits der Tod Christi als
Heilsgeschehen,
als Verheißung des gelobten Landes, gedeutet, anderseits ist das
verheißene Land Verweis auf eine durch Christi Tod erschlossene
ewige
unvergängliche Heimat.
Der Kreuzigung wird u.a.
der Baum von Dan 4 zugeordnet. (23) Im
Hintergrund steht das Verständnis des Kreuzes als Lebensbaum, wie
es u.a. auch in der spätmittelalterlichen Darstellung des
Baumkreuzes
zum Ausdruck kommt. (24) Ausgangspunkt
dafür ist das Wort ξύλον [xylon] (Vg lignum), dem
bereits in Gal
3,13
wichtige Bedeutung zur Deutung des Todes Christi gemäß der
Schrift
zukommt: Paulus zitiert hier Dtn 21,23 (nach der in der LXX
überlieferten
Textgestalt) »Verflucht ist jeder, der am Holze hängt«
und »deutet den stellvertretend "für uns" erlittenen Tod
Jesu
... als Fluchtod ("für uns zum Fluch geworden" ...)«
(25). „Von hier aus ist das Wort ξύλον [xylon] als Bezeichnung
für
das Kreuz offenbar in den neutestamentlichen Sprachgebrauch (Apg 5,30;
10,39; 13,29; 1 Petr 2,24) wie in den frühchristlichen (Barnabas
5,13;
8,1.5; 11,6; 12,1.7 und spätere) übergegangen."
(26) Was das Kreuz bedeutet wird so gemäß der
Schrift
mit den Stellen verdeutlicht, an denen ξύλον vorkommt, wobei zu
berücksichtigen
ist, daß ξύλον
in der LXX bzw. lignum in der Vg. sowohl das tote
Holz als auch den Baum bezeichnet. Bezeichnend für das
Unverständnis
heutiger Theologie gegenüber dieser langen - bereits von Ignatius
von Antiochien, dem Barnabasbrief, Justin, Tertullian, Origenes,
Irenäus
von Lyon, Cyprian etc. bezeugten - Tradition, ist das Fehlen jedweden
Verweises
auf das Kreuz im LThK³-Artikel Baum, die Übersetzung von
ξύλον
mit Pfahl in der Einheitsübersetzung, die Tilgung des Symbolwortes
lignum in der offiziellen deutschen Übersetzung des Ecce lignum
crucis
der Karfreitagsliturgie. (27) Eine
verbreitete
Verkennung der neutestamentlichen und frühchristlichen
Kreuzestheologie
zeigt sich an, wenn gesagt wird, daß seit Konstantin d.
Großen
„die Umdeutung des Kreuzes vom Straf- und Exekutionswerkzeug zum
universalen
(nun soteriologischen) Heilszeichen einsetzt" (28).
Dabei gehörte das Kreuzzeichen schon lange vor Konstantin zum
christlichen
Alltag. (29)
Wenn der
spätmittelalterlichen
Allegorisierung Willkür vorgeworfen wird, so ist dies nicht
generell
auszuschließen. Vieles aber erscheint uns deshalb als
Willkür,
weil der Vergleich sich auf die buchstäbliche Zeichenebene
beschränkt.
So ist die Deutung der Himmelsleiter Jacobs auf das Kreuz
(30) keineswegs willkürlich, wenn man sie als Zeichen
der
Verbindung zwischen Gott und Mensch sieht. Im Blick auf den Sinngehalt
ist die tradierte christliche Bildersprache durch feste Deutungsmuster
bestimmt. Eine Deutung etwa der Himmelsleiter, wie sie im modernen
religiösen
Lied begegnet, als von den Menschen selbst gebaute Brücke, so
lang,
»daß sie den Abgrund überwinde, daß jedermann
den
Himmel finde, daß sie die Welt mit Gott verbinde«, ist
dadurch
ausgeschlossen. Ähnlich ist es beim Bild des Schiffes: Das Holz,
das
die Kirche und die Menschen über das Meer trägt, ist das Kreuz
(31). Von daher scheidet etwa eine Deutung auf bestimmte
Gruppen
der Gemeinde aus.
Der moralischer
bzw. tropologische Schriftsinn
Als Beispiel moralischer
bzw. tropologischer Schriftauslegung führt das
Theologische
Wörterbuch von Altenstaig aus:
Die
spätmittelalterliche Theologie und Katechese sucht mit
der
Beachtung des moralischen Schriftsinnes der Vorgabe von Röm 15,4
und
2 Tim 3,16 gerecht zu werden, daß die Schrift zu unserer
»Belehrung,
zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der
Gerechtigkeit«
geschrieben ist (32), und hat dies in
vielfältiger
Weise umgesetzt. (33)
Ein Beispiel
dafür
ist die vierbändige, mehrere tausend Seiten umfassende und ab 1474
in vielen Druckausgaben erschienene moraltheologische Summa theologica
von Antoninus von Florenz. (34)
Das
ganze
Werk ist geprägt von einer intensiven Schriftkenntnis.
Insbesondere
Psalmverse fungieren als Motto und Leitlinien der einzelnen Themen.
Bezeichnend
für diese Methode ist bereits der Ausgangspunkt mit Ps
103(104),24:
„Quam magnificata sunt opera tua, Domine! omnia in sapientia
fecisti;
impleta
est terra possessione tua": Alles kommt von Gott. Auch unsere guten
Werke
sind Werke der Trinität. Dem Vater wird die wunderbare Macht, dem
Sohn die Weisheit, in der alles gemacht ist, und dem Hl. Geist das
Wohlwollen
zu uns, von dem die Erde erfüllt ist, zugeschrieben.
(35)
Im dritten Teil des Werkes, in dem eine Berufsethik der
einzelnen gesellschaftlichen Stände entworfen wird, ist das
Ausgangsmotto
für die Lehrenden und Studierenden (tit V: de doctoribus et
scolaribus)
Ps 118(119),66: bonitatem et disciplinam et scientiam doce me, quia
mandatis
tuis credidi.
Antoninus sieht darin drei Vorgaben für die
Wissenschaft:
1. „Daß die Erkenntnis der Wahrheit von Gott erwartet
werden
soll,
entsprechend dem Lehre mich (doce me),
2. Daß die
angemessene
Ordnung beachtet wird, nämlich Güte [Liebe, als
Wirkung
der Gnade],
Disziplin [Mäßigung und Anstand gegenüber
dem Nächsten] und Wissenschaft [entsprechend den
unterschiedlichen
Aufgaben etwa des Arztes, des Advokaten, des Priesters, etc.],
3.
Daß
die Bedingung der Demut [Bereitschaft von anderen zu lernen] angenommen
wird gemäß dem Deinen Geboten habe ich geglaubt".
(36)
Das Beispiel bedeutet nicht, daß alles aus der
Schrift
zu deduzieren ist, aber daß doch wichtige Vorgaben mit konkreten
Konsequenzen aus der Schrift abgelesen werden (z.B. daß der Arzt,
der Advokat, der Dozent seine Tätigkeit nicht vom Geld
abhängig
machen darf und dem Armen in gleicher Weise zukommen lassen soll).
Ein
anderes Beispiel ist das Fastnachtsbrauchtum
als Illustration des Weges
nach Babylon im Gegensatz zu dem im Evangelium vom Sonntag
Quinguagesima
angesprochenen Weg nach Jerusalem. (37)
Von daher ist auch die Ständekritik in den Passions- und
Osterspielen
(38) kein Fremdkörper.
Der anagogische Schriftsinn
Der anagogische
Schriftsinn
wird im Theologischen Wörterbuch so erklärt: „Anagoge
kommt
von
ana,
was hinauf bedeutet, und goge, was Führen heißt. Von
daher spricht man vom anagogischen Sinn, weil er vom Sichtbaren zum
Unsichtbaren
führt."
„Unter Jerusalem wird historisch verstanden jene irdische
Stadt, zu der die Pilger streben, allegorisch die kämpfende
Kirche,
tropologisch die gläubige Seele, anagogisch das himmlische
Jerusalem
oder die himmlische Heimat."
Diese vierte Dimension der
Schriftauslegung
besagt zunächst, daß jetzt das Endreich noch nicht
angebrochen
ist. Zum andern hält sie die Hoffnung auf Vollendung wach. Auch
wenn
jede Konkretisierung der Himmelshoffnung unter dem Vorbehalt
menschlicher
Begrenztheit steht (39), so ist
anderseits
ein Verblassen dieser Hoffnung auf Vollendung m. E. das
größere
Übel. Weiter geht es damit auch um den Zusammenhang von
Heilsgeschichte
und Vollendung. (40)
Bedeutung des vierfachen Schriftsinnes
Mit dem Schema des vierfachen Schriftsinnes ist so ein wichtiges hermeneutisches Instrumentarium mitgegeben, wie etwa in der Auslegung des Textes von David und Goliat nochmal verdeutlicht sei. Bei einer Deutung, die nur auf der buchstäblichen historischen Ebene bleibt, ist, wenn uns die Geschichte überhaupt noch etwas zu sagen hat, der Konsequenz, dem mächtigen Bösen mit Gottes Hilfe den Kopf abzuhauen, so wie es David mit Goliat getan hat, nur schwer zu entgehen. (41) Durch die allegorische Deutung, daß der Sieg des schwachen Guten über den starken Bösen grundlegend von Christus am Kreuz errungen wurde, wird diese Kampf-Geschichte im Licht der ganzen Bibel vom Kreuz her gelesen. Dadurch ergibt sich eine andere Vorgabe für den Sieg über das Böse. Durch die moralische Deutung, daß dieser Kampf auch in uns statt findet, wird das Böse nicht nur auf den Anderen abgeschoben. Die anagogische, eschatologische Deutung weist darauf hin, daß der Endsieg über das Böse erst im Himmel gegeben ist. Fällt eine Dimension grundsätzlich aus, ist das Gefüge des Ganzen bedroht.
Ein Dialog mit der Theologie und Katechese des Spätmittelalters mag gerade in unserer theologischen Situation der Neubesinnung auf eine gesamtbiblische Theologie anregend sein: Wie ist weiterhin christliche Sprache (42), Symbolverständnis (43) und Praxis (44) zu begründen und vor Entleerung und Verarmung (45) zu bewahren?
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1. Vorausgesetzt ist dabei, daß es bei Geschichte um das Verstehen menschlicher Äußerungen geht. Das besagt zugleich, daß einerseits Geschichte nie total einzufangen ist - weder im Hinblick auf einen einzelnen noch auf eine ganze Epoche -, daß aber anderseits ein annäherndes Verstehen des Anderen unter Ausschaltung von unwahren Behauptungen grundsätzlich möglich ist. Wäre dem nicht so, hätte dies auch für die Kommunikation in der Gegenwart fatale Folgen.
2. Vgl. dazu V. Pfnür, Excommunicatio und amicum colloquium. Das Religionsgespräch auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 auf dem Hintergrund der Frage des Lutherbannes, in: Unterwegs zum einen Glauben. Festschrift für Lothar Ullrich zum 65. Geburtstag, hg. von W. Beinert, K. Feiereis und H. J. Röhrig, Leipzig 1997, 448-460; Ders., Communio und excommunicatio, in: Vorgeschmack. Ökumenische Bemühungen um die Eucharistie. Festschrift für Theodor Schneider, hg. von B. J. Hilberath u. D. Sattler, Mainz 1995, 277-292.
3. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1997): KNA ÖKI 9, 4. März 1997, Dok. Nr. 4 / ebd. 10, 11. März 1997, Dok. Nr. 5.
4. Für die Einzelbelege vgl. V. Pfnür, Die Verwerfungen der Confessio Augustana, der Apologie und der Schmalkaldischen Artikel hinsichtlich der Rechtfertigungslehre, in: Lehrverurteilungen - kirchentrennend? II: Materialien zu den Lehrverurteilungen und zur Theologie der Rechtfertigung, hg. v. K. Lehmann, Freiburg-Göttingen 1989, 191-209 (Dialog der Kirchen, Bd. 5).
5. Vgl. A. Zumkeller, Erbsünde, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst nach der Lehre der Erfurter Augustinertheologen des Spätmittelalters, Würzburg 1984 (Cassiciacum 35); Ders., Das Ungenügen der menschlichen Werke bei den deutschen Predigern des Spätmittelalters, in: ZkTh, 81 (1959) 265-305; M. Santos Noya, Die Sünden- und Gnadenlehre des Gregor von Rimini, Frankfurt 1990 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 23, Theologie. Bd 388).
6. Vgl. etwa WATr 1, Nr. 526. Vgl. L. Graf zu Dohna, Staupitz and Luther. Continuity and Breakthrough at the Beginning of the Reformation, in: Via Augustini: Augustine in the Later Middle Ages, Renaissance and Reformation. Essays in Honor of Damasus Trapp, ed. by H. A. Oberman, F. A. James III, Leiden, 116-129 (Studies in Medieval and Reformation Thought, 48); Th. Fuchs, Konfession und Gespräch, Köln-Weimar-Wien, 1995 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd 4) 35f: „Die Augustiner des späten Mittelalters bis hin zum Trienter Konzil verband der 'antipelagianische Unterbau' ihrer Theologie in der Gnaden-, Prädestinations- und Morallehre, gewonnen an dem antipelagianischen Augustin. In Wittenberg hatte diese Augustinrezeption selbst in den Statuten einen Nachklang gefunden, in denen eine eigene Lehrrichtung der via Gregorii festgeschrieben worden ist. Luther selbst hat während seiner Ausbildung den Sentenzenkommentar Gregors von Rimini kennengelernt, und M. Schulze hat den theologischen Aufbruch der Wittenberger seit 1516 als eine aggressive Verstärkung der Theologie Gregors interpretiert."
7. Vgl. Biblia: Deutsche Bibeln vor und nach Martin Luther. Katalog, bearb. von J.-F. Leonhard (Heidelberg 1982).
8. Ars Moriendi (Bilder-Ars), 1. Hälfte des 15. Jh. entstanden, in der lateinischen Fassung wie in volkssprachlichen Übersetzungen weit verbreitet, zweite von fünf Versuchungen gegen einen guten Tod, zit. nach: Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von Cicero bis Luther, hg., eingeleitet und übersetzt von J. Laager, Zürich 1996, 194-201.
9. Vgl. S. Grosse, Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit, Tübingen 1994 (Beiträge zur historischen Theologie, 85), 225f.
10. Ars moriendi, 181f.; vgl. etwa auch Spiegel der armen sündigen Seele, Ulm 1484, hg. von P. Boon, Amsterdam 1984, gijr: „Die allerhöchste Seligkeit ist die stete Betrachtung des Todes. Dieses Gedächtnis soll ein jeglicher Mensch mit sich tragen, wo er geht oder steht." S. Grosse, Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter, 227f; B. Schulte, Die deutschsprachigen spätmittelalterlichen Totentänze. Unter besonderer Berücksichtigung der Inkunabel 'Des dodes dantz'. Lübeck 1489, Köln-Wien 1990 (Niederdeutsche Studien, 36), bes. 28-65.
11. Vgl. R. Averkorn, in: LThK, Bd 6, Freiburg-Basel-Rom Wien 31997, 412f; N. F. Palmer, in: VerLex² Bd VI (1985) 81-126.
13. Marquard von Lindau, Das Buch der zehn Gebote (Venedig 1483), Textausgabe mit Einleitung und Glossar von J. W. van Maren, Amsterdam 1984 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bd VII) S.11: „Czum andern mal sol man ainen got an beten mit gantzer eyniger zuversicht Also das man an seiner erbermde nicht verzweifeln sol von keiner sund wegen: vnd sol mit zuuersicht ewiges lebens in an biten Und in fursetzen allain als ain zil aller genugde."
15. Bemerkenswert ist die veränderte Fassung dieser Stelle in der Ausgabe von 1516. Marquard von Lindau: Die zehn Gebote (Straßburg 1516 und 1520). Ein katechetischer Traktat. Textausgabe mit Einleitung und sprachlichen Beobachtungen, hg. v. J. W. van Maren, Amsterdam 1980 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bd XIV), S. 43.: »Etlich lerer sprechen auch das der bapst keinen gewalt habe uber dy seelen in dem fegfeur, was aber darunder zehaltende sei das befilh ich got.« Umgekehrt geht es bei der Kontroverse zwischen Luther und Eck nicht um eine grundsätzliche Bestreitung des Fegfeuers, sondern um die Frage, wieweit der Mensch nach dem Tode noch selbst aktiv an der Reinigung beteiligt sein kann (vgl. WA 9,209,23-26; WA 2, 161,20ff; WA 59,525,2868-553,3790).
16. Marquard von Lindau, Das Buch der zehn Gebote, 39: „Du solt wissen das etlich meister sprechent es sey vmb geistlich gut recht als vmb ain licht wo das in ainer stuben ist so gesehent zehen menschen als wol als ob ain mensch in der stuben wer: wen darvmb das die andern auß der stuben gen so wirt ez nicht dester lichter in der stuben. Also sprechen sie es sey auch vmb dy heiligen messe also: wan ez werde Einer sele nicht allein dester mynder wie vil die messe andern lewten oder selen auch gesprochen werde. Aber du solt wissen das das der behende meister nicht heldet vnd auch ander gros lerer." Zur reformationsgeschichtlichen Kontroverse vgl. V. Pfnür, Die Messe als Sühnopfer für Lebende und Verstorbene ex opere operato, in: Gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische Kommission: Das Herrenmahl, Paderborn-Frankfurt 1978, 101-105.
17. Vocabularius Theologiae complectens vocabulorum descriptiones, diffinitiones et significatus ad theologiam utilium: et alia quibus prudens et diligens lector multa abstrusa et obscura theologorum dicta et dissolvere et rationum et argumentorum difficiles nodos et facile ea quae in ducem et principem sententiarum doctores scripserunt intelligere poterit magno cum labore et diligentia compilata a Joanne Altenstaig Mindelhaimensi sacre scripturae vero amatore (Hagenau 1517), Stichwort: Scriptura sacra.
18. Vgl. dazu ThRv 91 (1995) 478-483.
19. Biblia Pauperum. Armenbibel. Die Bilderhandschrift des Codex Palatinus latinus 871 im Besitz der Biblioteca Apostolica Vaticana. Einführung und Kommentar von Ch. Wetzel, Transkription und Übersetzung von H. Drechsler, Stuttgart-Zürich 1995, Fol. 14r, 95.
20. Ebd. fol. 15r, 97 (Grablegung Christi).
21. Vgl. Verlex² IX, 1995, 52-65.
22. Speculum humanae salvationis. Codex Cremifanensis 243 des Benediktinerstiftes Kremsmünster, Kommentar von W. Neumüller, Graz, 1997, fol 28r, 36. Vlg. A. Thomas, Kundschafter mit der Traube, in: LCI 2 (1970)700f.
24. Vgl. H. Bethe, Baumkreuz, in: RDK II, 1948, 100-105, 101: „Im 15. Jh. ist das Baumkreuz eine der beliebtesten Formen des Lebensbaumes."
25. H. Merklein, in: LThK, Bd. 6, Freiburg-Basel-Rom-Wien 31997, 443; vgl. K. H. Schelkle, Die Petrusbriefe, der Judasbrief. Auslegung, Freiburg 1961, 85: „Indem das Holz des Kreuzes an Dt 21,22f erinnert, enthält es also eine Theologie vom Heilstod Christi am Kreuz."
26. K. H. Schelkle, Die Passion Jesu in der Verkündigung des Neuen Testaments, Heidelberg 1949, 107.
27. Vgl. auch V. Pfnür, Die Fahrt auf dem Meer als Bild des menschlichen Lebens in der Sicht spätmittelalterlicher Theologie, in: Sie wandern von Kraft zu Kraft. Aufbrüche - Wege - Begegnungen. Festgabe für Bischof Reinhard Lettmann, hg. v. A. Angenendt u. H. Vorgrimler, Kevelaer 1993, 139-141; ThRv 91 (1995) 482.
30. So schon bei Justin, Apol. 86.
31. Vgl. V. Pfnür, Die Fahrt auf dem Meer als Bild des menschlichen Lebens in der Sicht spätmittelalterlicher Theologie, 126-141.
32. Beide Schriftstellen werden von J. Altenstaig gleich zu Beginn des Artikels Scriptura sacra zitiert.
33. Vgl. V. Pfnür, Zum Verständnis von communio in der spätmittelalterlichen Theologie, in: Communio sanctorum. Einheit der Christen Einheit der Kirche. Festschrift für Bischof Paul-Werner Scheele, hg. von J. Schreiner und K. Wittstadt, Würzburg 1988, 147-167, 163ff.
34. Im folgenden zitiert nach dem Nachdruck der Ausgabe Verona 1740, Graz 1959.
37. Vgl. V. Pfnür, Das Verständnis von Narrheit und Torheit im Spätmittelalter, in: Weisheit Gottes - Weisheit der Welt. Festschrift für Joseph Kardinal Ratzinger zum 60. Geburtstag, 2 Bde, hg. von W. Baier u.a., St. Ottilien 1987, 795-814.
38. Vgl. G. Franz, Tugenden und Laster der Stände in der didaktischen Literatur des späten Mittelalters, Bonn 1957; H. Rosenfeld, Sebastian Brants »Narrenschiff« und die Tradition der Ständesatire, Narrenbilderbogen und Flugblätter des 15. Jahrhunderts, in: Gutenberg-Jahrbuch, 1965, 242-248; R. M. Kulli, Die Ständesatire in den deutschen geistlichen Schauspielen des ausgehenden Mittelalters, Bern 1966 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur, H. 31); W. Heinemann, Zur Ständedidaxe in der deutschen Literatur des 13. - 15. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, begründet von W. Braune/H. Paul/E. Sievers, hg. von H. de Boor und I. Schöbler, 88, Halle 1966, 1-90; 89, 1967, 290-403; 92, 1970, 388-437; S. Grosse, Zur Ständekritik in den geistlichen Spielen des späten Mittelalters, in: ZDP 86 (1967) 63-79 = Sonderheft Spätes Mittelalter, hg. von H. Moser und K. Ruh; R. Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele des Mittelalters. Versuch einer Darstellung und Wesensbestimmung nebst einer Bibliographie zum deutschen geistlichen Spiel des Mittelalters, Köln-Wien 1970 (Kölner Germanistische Studien, 4).
39. Vgl. etwa Stephan von Landskron, Die Hymelstrasz, Augsburg 1484 (1501,1510), hg. von G.J. Jaspers, Amsterdam 1979, Kap.2 „Von der ubergrossen grösz der freüden der erwoelten..."
40. Wenn es am Ende keine Kirche mehr gibt, welchen Sinn macht dann noch das Bild von der Braut und dem Hochzeitsmahl des Lammes (Offb 21). Ähnlich ist es mit dem Kreuz. Ist es nur blutige Vergangenheit oder bleibender Lebensbaum als Zeichen der Liebe Gottes, die sich im Kreuz offenbarte.
41. Ähnlich liegt bei einem nur buchstäblichen Verständnis der Landverheißung, wenn das ganze nicht bloß eine Episode der Vergangenheit war, die Konsequenz nahe, jeden Quadratmeter des Heiligen Landes zu verteidigen und jede Preisgabe als Verrat an Gott zu werten.
42. Zu meiner Überraschung mußte ich etwa feststellen, daß Schüler mit dem »himmlischen Jerusalem« keine positiven Vorstellungen verbinden, weil sie im Religionsunterricht nur von dem gegenwärtigen geteilten Jerusalem hörten. Wer mit Israel nur den Staat Israel oder nur das geschichtliche jüdische Israel verbindet, muß Nr. 902 aus dem Gotteslob („... führ aus Trug und Wahn dein Israel ...") als antijudaistisch verstehen.
43. Wenn schon in der Theologie die tradierte Kreuzessymbolik nicht mehr verstanden oder akzeptiert wird (s.o.), ist es nicht verwunderlich, daß das Kreuz in der Gesellschaft immer mehr zum bloßen Todessymbol oder zum beliebig deutbaren Zeichen wird.
44. Die Feier des Sonntags anstelle des im AT gebotenen Sabbats, die Feier von Ostern mit Christus als unserem Paschalamm, das Beten der Psalmen mit abschließender Doxologie der Trinität etc.
45. Vgl. etwa die im VerLex² aufgeführten Werke: Geistliche/r/s ABC, Apotheke, Baumgarten, Blumengarten, Ein- und Auskehr, Fastnachtskrapfen, Freudenmai, Geißel, Gemahelschaft. Harfe, Haus, Hausmagd, Himmelfahrt, Hove, Jagd, Klause, Kloster, Lebkuchen, Lehre, Mai, Maibaum, Meerfahrt, Mühlenlied, Neujahrsbrief, Orgel, Ratschläge, Spiegel, Spinnrocken, Spur, Streit, Wagen, Weinrebe, Weizenkorn, Wirtschaft.