Der Streit der Religionen erscheint den Menschen von heute wie dieser Streit der Blindgeborenen. Denn blind geboren sind wir den Geheimnissen des Göttlichen gegenüber, so scheint es. Das Christentum befindet sich für das heutige Denken keineswegs in einer positiveren Perspektive als die anderen – Gegenteil: Mit seinem Wahrheitsanspruch scheint besonders blind zu sein gegenüber der Grenze all unserer Erkenntnis des Göttlichen, durch einen besonders törichten Fanatismus gekennzeichnet, der das in eigener Erfahrung betastete Stück unbelehrbar für das Ganze erklärt.
Ernst Troeltsch hat zu Beginn dieses Jahrhunderts diesen inneren Rückzug des Christentums aus seinem ursprünglich universalen Anspruch, der nur auf dem Anspruch der Wahrheit gründen konnte, philosophisch und theologisch formuliert. Er war zur Überzeugung von der Unübersteiglichkeit der Kulturen und von der Bindung der Religion an die Kulturen gekommen. Das Christentum ist dann nur die Europa zugewandte Seite des Antlitzes Gottes. Die »individuellen Besonderheiten der Kultur- und Rassenkreise« und die »Besonderheiten ihrer großen zusammenfassenden Religionsbildungen« bekommen den Rang einer letzten Instanz: »Wer also will hier wagen, wirklich entscheidende Wertvergleichungen zu machen. Das könnte nur Gott selbst, der diese Verschiedenheiten aus sich entlassen hat.« Ein Blindgeborener weiß, daß er nicht zum Blindsein geboren ist und wird daher nicht aufhören, nach dem Warum seiner Blindheit und nach einem Weg aus ihr heraus zu fragen. Nur scheinbar hat sich der Mensch mit dem Verdikt abgefunden, dem Eigentlichen gegenüber, auf das es letztlich in unserem Leben ankommt, blind geboren zu sein.
Weil es so steht, muß die altmodische Frage nach der Wahrheit des Christentums neu gestellt werden, so überflüssig und unbeantwortbar sie vielen erscheinen mag. Aber wie? Zweifellos wird die christliche Theologie die einzelnen Instanzen, die gegen den Wahrheitsanspruch des Christentums im Bereich der Philosophie, der Naturwissenschaften, der Geschichte aufgerichtet worden sind, sorgsam überprüfen, sich ihnen aussetzen müssen. Zum anderen aber muß sie auch versuchen, eine Gesamtvision der Frage nach dem wahren Wesen des Christentums, nach seiner Stellung in der Geschichte der Religionen und nach seinem Ort in der menschlichen Existenz zu gewinnen. Ich möchte einen Schritt in diese Richtung tun, indem ich die Frage beleuchte, wie in den Ursprungszeiten des Christentums dieses selbst seinen Anspruch im Kosmos der Religionen gesehen hat.
Die zweite Bestimmung gilt dem Ort in der Wirklichkeit, dem die betreffende Theologie zugeordnet ist. Da entspricht der mythischen Theologie das Theater, das durchaus einen religiösen, kultischen Rang hatte; die Schauspiele sind nach der herrschenden Meinung auf Weisung der Götter in Rom eingerichtet worden. Der politischen Theologie entspricht die urbs, der Raum der natürlichen Theologie aber sei der Kosmos. Die dritte Bestimmung nennt den Inhalt der drei Theologien: Die mythische Theologie habe als Inhalt die von den Poeten geschaffenen Götterfabeln; die staatliche Theologie den Kult; die natürliche Theologie antworte auf die Frage, wer die Götter seien. Hier lohnt es sich, genauer zuzuhören: »Ob sie – mit Heraklit – aus Feuer sind oder – mit Pythagoras – aus Zahlen oder – mit Epikur – aus Atomen, und so noch anderes, was die Ohren leichter innerhalb der Schulwände ertragen können als draußen auf dem Marktplatz.« Hier wird ganz deutlich sichtbar, daß diese natürliche Theologie Entmythologisierung, oder besser gesagt: Aufklärung ist, die kritisch hinter den mythischen Schein blickt und ihn naturwissenschaftlich aufgeschlossen löst. Kult und Erkenntnis fallen auseinander. Der Kult bleibt als Sache der politischen Zweckmäßigkeit notwendig; die Erkenntnis wirkt religionszerstörend und sollte daher nicht auf den Marktplatz getragen werden.
Schließlich ist da noch die vierte Bestimmung: Welche Art von Wirklichkeit ist Inhalt der einzelnen Theologien? Varros Antwort lautet: Die natürliche Theologie hat es mit der »Natur der Götter« zu tun (die es gar nicht gibt), die beiden anderen Theologien handeln von den divina instituta hominum – von den göttlichen Einrichtungen der Menschen. Damit aber ist letztlich der ganze Unterschied reduziert auf den von Physik im antiken Sinn und von Kultreligion andererseits. »Die civilische Theologie hat letztlich keinen Gott, nur ,Religion‘; die ,natürliche Theologie‘ hat keine Religion, sondern nur eine Gottheit.« Ja, sie kann gar keine Religion haben, denn ihr Gott ist religiös nicht ansprechbar: Feuer, Zahlen, Atome. So stehen religio (womit wesentlich Kult gemeint ist) und Wirklichkeit, die rationale Erkenntnis der Realität, als zwei getrennte Sphären nebeneinander. Die religio empfängt ihre Rechtfertigung nicht aus der Realität des Göttlichen, sondern aus ihrer politischen Funktion. Sie ist eine Einrichtung, deren der Staat für seine Existenz bedarf. Zweifellos stehen wir hier vor einer Spätphase von Religion, in der die Naivität des Religiösen zerbrochen und damit seine Auflösung eingeleitet ist.
Damit haben wir vorgegriffen. Denn die neuplatonische Position ist ihrerseits schon eine Reaktion auf die christliche Stellungnahme zur Frage nach der christlichen Kultbegründung und der ihr zugrunde liegenden Ortsbestimmung des Glaubens in der Typologie der Religionen. Kehren wir also zu Augustinus zurück. Wo siedelt er das Christentum in der varronischen Trias der Religionen an? Das Erstaunliche ist, daß er ohne jedes Zögern dem Christentum seinen Platz im Bereich der „physischen Theologie“, im Bereich der philosophischen Aufklärung zuweist. Er steht damit in vollkommener Kontinuität mit den frühesten Theologen des Christentums, den Apologeten des zweiten Jahrhunderts, ja, mit der Ortsbestimmung des Christlichen durch Paulus im ersten Kapitel des Römerbriefs, die ihrerseits auf der alttestamentlichen Weisheitstheologie beruht und über sie zurückreicht bis in die Verspottung der Götter in den Psalmen.
Weil es so ist, weil das Christentum sich als Sieg der Entmythologisierung, als Sieg der Erkenntnis und mit ihr der Wahrheit verstand, deswegen mußte es sich als universal ansehen und zu allen Völkern gebracht werden: nicht als eine spezifische Religion, die andere verdrängt, nicht aus einer Art von religiösem Imperialismus heraus, sondern als Wahrheit, die den Schein überflüssig macht. Und eben deshalb muß es in der weiträumigen Toleranz der Polytheismen als unverträglich, ja als religionsfeindlich, als „Atheismus“ erscheinen: Es hielt sich nicht an die Relativität und Austauschbarkeit der Bilder, es störte damit vor allem den politischen Nutzen der Religionen und gefährdete so die Grundlagen des Staates, in dem es nicht Religion unter Religionen, sondern Sieg der Einsicht über die Welt der Religionen sein wollte.
Andererseits hängt mit dieser Ortsbestimmung des Christlichen im Kosmos von Religion und Philosophie auch die Durchschlagskraft des Christentums zusammen. Schon vor dem Auftreten der christlichen Mission hatten gebildete Kreise der Antike in der Figur der „Gottesfürchtigen“ den Anschluß an den jüdischen Glauben gesucht, der ihnen als religiöse Gestalt des philosophischen Monotheismus erschien und so zugleich den Forderungen der Vernunft wie dem religiösen Bedürfnis des Menschen entsprach, auf das die Philosophie allein nicht antworten konnte: Zu einem bloß gedachten Gott betet man nicht. Wenn aber der Gott, den das Denken findet, nun im Innern einer Religion als sprechender und handelnder Gott begegnet, dann sind Denken und Glauben versöhnt.
Die Verschmelzung von Aufklärung und Glaube, die sich in der Entwicklung der christlichen Mission und im Aufbau der christlichen Theologie vollzog, brachte freilich auch einschneidende Korrekturen am philosophischen Gottesbild hervor, deren vor allem zwei zu nennen sind. Die erste besteht darin, daß der Gott, dem die Christen glauben und den sie verehren, im Unterschied zu den mythischen und politischen Göttern wirklich natura Deus ist; darin liegt die Deckung mit der philosophischen Aufklärung. Aber gleichzeitig gilt nun: non tamen omnis natura est Deus – nicht alles, was Natur ist, ist Gott. Gott ist seiner Natur nach Gott, aber nicht die Natur als solche ist Gott.
Es geschieht eine Trennung zwischen der allumfassenden Natur und dem sie begründenden, ihr Ursprung gebenden Sein. So erst treten nun Physik und Metaphysik deutlich auseinander. Nur der wirkliche Gott, den wir denkend in der Natur erkennen können, wird angebetet. Aber er ist mehr als Natur. Er geht ihr voraus, und sie ist sein Geschöpf. Dieser Trennung von Natur und Gott tritt eine zweite, noch einschneidendere Erkenntnis zur Seite: Zu dem Gott, der Natur, Weltseele oder was auch immer war, hatte man nicht beten können; er war kein „religiöser Gott“, hatten wir festgestellt. Nun aber, so sagt schon der Glaube des Alten Testaments und erst recht der des Neuen Testaments, hat dieser Gott, der der Natur vorausgeht, sich den Menschen zugewandt. Eben weil er nicht bloß Natur ist, ist er kein schweigender Gott. Er ist in die Geschichte eingetreten, dem Menschen entgegengegangen, und so kann der Mensch nun ihm entgegengehen. Er kann sich Gott verbinden, weil Gott sich dem Menschen verbunden hat.
Wenn man demgemäß sagen darf, daß der Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen nicht zuletzt durch den Anspruch seiner Vernünftigkeit ermöglicht wurde, so ist dem hinzuzufügen, daß ein zweites Motiv gleichbedeutend damit verbunden ist. Es besteht zunächst, ganz allgemein gesagt, im moralischen Ernst des Christentums, den freilich wiederum schon Paulus in Zusammenhang gebracht hatte mit der Vernünftigkeit des christlichen Glaubens: Das, was das Gesetz eigentlich meint, die vom christlichen Glauben ins Licht gestellten wesentlichen Forderungen des einen Gottes an das Leben des Menschen, deckt sich mit dem, was dem Menschen, jedem Menschen, ins Herz eingeschrieben ist, so daß er es als das Gute einsieht, wenn es vor ihn hintritt. Es deckt sich mit dem, was »von Natur gut ist« (Röm 2,14 f.).
Die Anspielung auf die stoische Moral, auf ihre ethische Interpretation der Natur, ist hier ebenso offenkundig wie in anderen paulinischen Texten, etwa im Philipperbrief: »Was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht!« (4,8). Die grundsätzliche (wenngleich kritische) Einheit mit der philosophischen Aufklärung im Gottesbegriff bestätigt und konkretisiert sich nun in der gleichfalls kritischen Einheit mit der philosophischen Moral. Wie im Bereich des Religiösen das Christentum gerade dadurch die Grenzen philosophischer Schulweisheit überschritt, daß der gedachte Gott als lebendiger Gott begegnete, so gab es auch hier den Überschritt über die ethische Theorie zu gemeinschaftlich gelebter und konkretisierter moralischer Praxis, in der die philosophische Sicht vor allem durch die Konzentrierung aller Moral auf das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe überboten und in reales Handeln übersetzt wurde.
Rückschauend können wir sagen, daß die Kraft des Christentums, die es zur Weltreligion werden ließ, in seiner Synthese von Vernunft, Glaube und Leben bestand; genau diese Synthese ist in dem Wort von der religio vera zusammenfassend ausgedrückt. Um so mehr drängt sich die Frage auf: Warum überzeugt diese Synthese heute nicht mehr? Warum gelten heute im Gegenteil Aufklärung und Christentum als einander widersprechend, ja, ausschließend? Was hat sich an der Aufklärung, was am Christentum geändert, daß es so ist? Damals hatte der Neuplatonismus, besonders Porphyrius, der christlichen Synthese eine andere Interpretation des Verhältnisses von Philosophie und Religion entgegengestellt, die sich als philosophische Neubegründung der Religion der Götter verstand. Auf ihr hatte Julian aufgebaut und war gescheitert. Aber heute scheint sich gerade diese andere Form, Religion und Aufklärung in Ausgleich zu bringen, als die dem modernen Bewußtsein angemessenere Weise von Religiosität durchzusetzen. Ihr erster Grundgedanke ist bei Porphyrius so formuliert: Latet omne verum – die Wahrheit ist verborgen. Erinnern wir uns an das Elephantengleichnis, das genau von diesem Gedanken bestimmt ist, in dem sich Buddhismus und Neuplatonismus begegnen. Demgemäß gibt es über die Wahrheit, über Gott nur Meinungen, keine Gewißheit.
Ist demnach der Anspruch des Christentums, religio vera zu sein, durch den Fortgang der Aufklärung überholt? Muß es von seinem Anspruch heruntersteigen und sich in die neuplatonische oder buddhistische oder hinduistische Sicht von Wahrheit und Symbol einfügen, sich – wie Troeltsch es vorgeschlagen hatte – damit bescheiden, die den Europäern zugewandte Seite des Antlitzes Gottes zu zeigen? Muß es vielleicht sogar einen Schritt weitergehen als Troeltsch, der noch meinte, das Christentum sei die für Europa angemessene Religion, während doch heute gerade Europa an dieser Angemessenheit zweifelt? Dies ist die eigentliche Frage, der sich heute Kirche und Theologie zu stellen haben. Alle Krisen im Inneren des Christentums, die wir gegenwärtig beobachten, beruhen nur ganz sekundär auf institutionellen Problemen. Die Probleme der Institutionen wie der Personen in der Kirche rühren letztlich von der gewaltigen Wucht dieser Frage her. Niemand wird erwarten, daß diese grundsätzliche Herausforderung am Ende des zweiten christlichen Jahrtausends in einem Referat auch nur von ferne abschließend beantwortet wird. Sie kann überhaupt nicht rein theoretisch beantwortet werden, wie denn Religion als das Letztverhalten des Menschen nie nur Theorie ist. Sie verlangt jenes Zusammenspiel von Einsicht und Tun, das die Überzeugungskraft des Christentums der Väter begründete.
Dies bedeutet beileibe nicht, daß man sich dem intellektuellen Anspruch des Problems mit dem Verweis auf den notwendigen Praxisbezug entziehen dürfte. Ich versuche zum Schluß nur einen Ausblick, der die Richtung zeigen könnte. Wir hatten gesehen, daß die ursprüngliche, freilich nie ganz unbestrittene Beziehungseinheit zwischen Aufklärung und Glaube, die schließlich bei Thomas von Aquin auf eine systematische Form gebracht worden war, weniger durch die Entwicklung des Glaubens als vielmehr durch die neuen Schritte der Aufklärung zerrissen worden ist. Als Stationen dieses Auseinandertretens könnte man Descartes, Spinoza, Kant nennen. Der Versuch einer umfassenden neuen Synthese bei Hegel gibt nicht dem Glauben seinen philosophischen Ort zurück, sondern versucht, ihn ganz in Vernunft umzusetzen und als Glauben aufzuheben. Dieser Absolutheit des Geistes stellt Marx die Einzigkeit der Materie entgegen; Philosophie soll nun ganz auf exakte Wissenschaft zurückgeführt werden. Nur noch exakte wissenschaftliche Erkenntnis ist überhaupt Erkenntnis. Der Gedanke an das Göttliche ist damit abgedankt. Die Ankündigung von Auguste Comte, eines Tages werde es eine Physik des Menschen geben und die bisher der Metaphysik überlassenen großen Fragen würden in Zukunft genauso „positiv“ zu behandeln sein wie alles, was jetzt schon positive Wissenschaft ist, hat in unserem Jahrhundert in den Humanwissenschaften ein beeindruckendes Echo hinterlassen.
Die durch das christliche Denken vollzogene Trennung von Physik und Metaphysik wird immer mehr zurückgenommen. Alles soll wieder „Physik“ werden. Immer mehr hat sich die Evolutionstheorie als der Weg herauskristallisiert, um Metaphysik endlich verschwinden, die »Hypothese Gott« (Laplace) überflüssig werden zu lassen und eine streng „wissenschaftliche“ Erklärung der Welt zu formulieren. Eine umfassend das Ganze alles Wirklichen erklärende Evolutionstheorie ist zu einer Art „erster Philosophie“ geworden, die sozusagen die eigentliche Grundlage für das aufgeklärte Verständnis der Welt darstellt. Jeder Versuch, andere als die in einer solchen „positiven“ Theorie erarbeiteten Ursachen ins Spiel zu bringen, jeder Versuch von „Metaphysik“ muß als Rückfall hinter die Aufklärung, als Ausstieg aus dem Universalanspruch der Wissenschaft erscheinen. Damit muß der christliche Gottesgedanke als unwissenschaftlich gelten. Ihm entspricht keine theologia physica mehr: Die einzige theologia naturalis ist in solcher Sicht die Evolutionslehre, und die kennt eben keinen Gott, weder einen Schöpfer im Sinn des Christentums (des Judentums und des Islam), auch keine Weltseele oder innere Triebkraft im Sinn der Stoa. Allenfalls könnte man im Sinn des Buddhismus diese ganze Welt als Schein und das Nichts als das eigentlich Wirkliche betrachten und in diesem Sinn mystische Religionsformen rechtfertigen, die wenigstens mit der Aufklärung nicht direkt konkurrieren.
Ist damit das letzte Wort gesprochen, sind Vernunft und Christentum demnach definitiv voneinander getrennt? Jedenfalls führt an dem Disput über die Reichweite der Evolutionslehre als erster Philosophie und über die Ausschließlichkeit positiver Methode als einziger Weise von Wissenschaft und von Rationalität kein Weg vorbei. Dieser Disput muß daher von beiden Seiten sachlich und hörbereit in Angriff genommen werden, was bisher nur in geringem Maß geschehen ist. Niemand wird die wissenschaftlichen Beweise für die mikroevolutiven Prozesse ernstlich in Zweifel ziehen können. Reinhard Junker und Siegfried Scherer sagen dazu in ihrem kritischen Lehrbuch über die Evolution: »Solche Vorgänge (mikroevolutive Prozesse) sind vielfach aus natürlichen Variations- und Ausbildungsprozessen bekannt. Ihre Erforschung durch die Evolutionsbiologie ergab bedeutende Einsichten in die genial erscheinende Anpassungsfähigkeit lebender Systeme.« Sie sagen dementsprechend, man könne Ursprungsforschung mit Fug und Recht als die Königsdisziplin der Biologie bezeichnen.
Die Frage, die hier zu stellen ist, reicht freilich tiefer: Es geht darum, ob die Evolutionslehre als Universaltheorie alles Wirklichen auftreten darf, über die hinaus weitere Fragen nach Ursprung und Wesen der Dinge nicht mehr zulässig und auch nicht mehr nötig sind oder ob solche Letztfragen nicht doch den Bereich des rein naturwissenschaftlich Erforschbaren überschreiten. Ich möchte die Frage noch konkreter stellen. Ist alles gesagt mit einem Typus von Antworten, wie wir ihn etwa bei Popper in folgender Formulierung finden: »Das Leben, so wie wir es kennen, besteht aus physikalischen ,Körpern‘ (besser aus Prozessen und Strukturen), die Probleme lösen. Das haben die verschiedenen Arten durch die natürliche Auslese ,gelernt‘, das heißt, durch die Methode von Reproduktion plus Variation; eine Methode, die ihrerseits nach der gleichen Methode erlernt wurde. Das ist ein Regreß, aber er ist nicht unendlich ...«? – Ich glaube nicht. Letzten Endes geht es um eine Alternative, die sich bloß naturwissenschaftlich und im Grunde auch philosophisch nicht mehr auflösen läßt. Es geht um die Frage, ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht.
Es geht um die Frage, ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit (oder mit Popper im Anschluß an Butler aus luck und cunning – glücklicher Zufall und Voraussicht –), also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist, oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat Verbum – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen. Diese Letztfrage kann nicht mehr, wie schon gesagt, durch naturwissenschaftliche Argumente entschieden werden, und auch das philosophische Denken stößt hier an seine Grenzen. In diesem Sinn gibt es eine letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nicht. Aber kann eigentlich die Vernunft auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen, auf die Uranfänglichkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzuheben? Das von Popper vorgeführte Erklärungsmodell, das in anderen Darstellungen der „ersten Philosophie“ in verschiedenen Variationen wiederkehrt, zeigt, daß die Vernunft gar nicht anders kann, als auch das Unvernünftige nach ihrem Maß, also vernünftig zu denken (Probleme lösen, Methode erlernen!), womit sie implizit doch wieder den eben geleugneten Primat der Vernunft aufrichtet. Durch seine Option für den Primat der Vernunft bleibt das Christentum auch heute „Aufklärung“, und ich denke, daß eine Aufklärung, die diese Option abstreift, allem Anschein zuwider nicht eine Evolution, sondern eine Involution der Aufklärung bedeuten müßte.
Wir hatten vorhin gesehen, daß in der Konzeption der frühen Christenheit die Begriffe von Natur, Mensch, Gott, Ethos und Religion unlösbar ineinander verknotet waren und daß zur Einsichtigkeit des Christentums in der Krise der Götter und in der Krise der antiken Aufklärung gerade diese Verknüpfung beigetragen hatte. Die Orientierung der Religion an einer vernünftigen Sicht der Wirklichkeit überhaupt, das Ethos als Teil dieser Vision und seine konkrete Anwendung unter dem Primat der Liebe verbanden sich miteinander. Primat des Logos und Primat der Liebe erwiesen sich als identisch. Der Logos erschien nicht nur als mathematische Vernunft auf dem Grund aller Dinge, sondern als schöpferische Liebe bis zu dem Punkt hin, daß er Mit-Leiden mit dem Geschöpf wird. Der kosmische Aspekt der Religion, die den Schöpfer in der Macht des Seins verehrt und ihr existentieller Aspekt, die Erlösungsfrage, traten ineinander und wurden ein einziges.
Tatsächlich muß jede Erklärung des Wirklichen ungenügend bleiben, die nicht auch ein Ethos sinnvoll und einsichtig begründen kann. Nun hat in der Tat die Evolutionstheorie, wo sie sich zur philosophia universalis auszuweiten anschickt, auch das Ethos evolutionär neu zu begründen versucht. Aber dieses evolutionäre Ethos, das seinen Schlüsselbegriff unausweichlich im Modell der Selektion, also im Kampf ums Überleben, im Sieg des Stärkeren, in der erfolgreichen Anpassung findet, hat wenig Tröstliches zu bieten. Auch wo man es auf mancherlei Weise zu verschönern strebt, bleibt es letztlich ein grausames Ethos. Das Bemühen, aus dem an sich Vernunftlosen das Vernünftige zu destillieren, scheitert hier recht augenfällig. Zu einer Ethik des universalen Friedens, der praktischen Nächstenliebe und der nötigen Überwindung des Eigenen, die wir brauchen, ist dies alles wenig tauglich.
Der Versuch, in dieser Krise der Menschheit dem Begriff des Christentums als religio vera wieder einen einsichtigen Sinn zu geben, muß sozusagen auf Orthopraxie und Orthodoxie gleichermaßen setzen. Sein Inhalt wird heute – letztlich wie damals – im Tiefsten darin bestehen müssen, daß Liebe und Vernunft als die eigentlichen Grundpfeiler des Wirklichen zusammenfallen: Die wahre Vernunft ist die Liebe, und die Liebe ist die wahre Vernunft. In ihrer Einheit sind sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen.
+ Joseph Cardinal Ratzinger