Da war es wirklich staunenswert, wie die Schönheit des Mädchens, so sehr man sie zu verbergen suchte, doch nicht unbemerkt bleiben konnte. In ihrer ganzen Heimat schien nichts ähnlich bewundernswert wie der Anblick ihrer Gestalt und Anmut, so daß nicht einmal die Hände der Maler ihre jugendliche Schönheit im Bilde zu treffen vermochten und daß diese Kunst, die alles versucht und nachbildet, die das Größte wagt und sogar die Bilder der Elemente in ihrer Nachbildung ausdrückt, die Herrlichkeit ihrer Gestalt ganz genau nicht wiedergeben konnte. Deswegen umgab eine große Schar junger Männer, die sich um ihre Hand bewarben, ihre Eltern. Ihr Vater aber - er war verständig und darauf bedacht, das Beste zu wählen - zog einen jungen Mann aus achtbarer Familie, der wegen seines besonnenen Wesens bekannt war und eben erst von seiner Ausbildung zurückkehrte, den anderen vor und gedachte, jenem seine Tochter zu verheiraten, sobald sie das entsprechende Alter erreicht hätte. Jener nun berechtigte zu den höchsten Erwartungen. In der Verteidigung unschuldig Angeklagter bewies er eine ganz hervorragende Beredsamkeit. Diese Beredsamkeit war dem Vater des Mädchens eine besonders willkommene Mitgift. Der Neid des Schicksals aber zerschlug diese herrliche Hoffnung und nahm ihn in beklagenswerter Jugend aus diesem Leben hinweg. Der Wille des Vaters war der Tochter wohl bekannt. Als aber durch den Tod des jungen Mannes die für sie bestimmte Verbindung zunichte geworden war, galt ihr die vom Vater getroffene Entscheidung sozusagen als eine schon vollzogene Ehe, und sie beschloß, für die übrige Zeit ihres Lebens ehelos zu bleiben. In ihrem Entschluß beharrte sie standhafter, als man bei ihrem Alter hätte erwarten können. Ihre Eltern machten ihr freilich oft Vorschläge zu einer anderen Verbindung, weil viele um ihrer weithin bekannten Schönheit willen um ihre Hand anhielten. Sie aber erklärte es für unangemessen und gesetzwidrig, den ihr einmal vom Vater bestimmten Mann nicht zu lieben, sondern gezwungen zu werden, nach einem anderen Umschau zu halten. Ihrer Natur nach sei die Ehe nur einmalig, wie ja auch Geburt und Tod nur einmalig seien. Ihre Meinung war und blieb, der ihr nach dem Willen der Eltern zugedachte Bräutigam sei nicht gestorben, sondern lebe für Gott kraft der Hoffnung auf die Auferstehung. Er sei in ein anderes Land gegangen, aber nicht gestorben. Es sei aber gegen alles Recht, dem Bräutigam, der fortgereist sei, die Treue nicht zu halten. Mit solchen Gründen wehrte sie die ab, die sie zu überreden versuchten. Dabei sah sie ein ganz besonderes Mittel, in ihrem guten Entschluß zu beharren, darin, daß sie sich nie, auch nicht für die kürzeste Zeit, von ihrer Mutter trennte. Der Mutter nun, die dadurch in so viele Sorgen verstrickt war - der Vater war schon aus diesem Leben geschieden -, stand sie so in allen diesen Angelegenheiten und Mühen treu zur Seite, alle ihre Sorten teilend, und erleichterte ihr die Schwere ihrer Leiden. Zugleich aber behütete sie unter der weisen Führung ihrer Mutter ihr eigenes Leben vor jedem Makel, in allem durch die Aufsicht der Mutter gelenkt und bestätigt. Der Mutter aber gab sie durch ihr eigenes Leben eine ganz vorzügliche Anweisung zu dem gleichen Ziel, ich meine zur Vollendung im Sinne der Weisheitsliebe, indem sie sie in kurzer Zeit zu einem vollkommenen Leben jenseits der stofflichen Begrenzung führte.
Und als die Mutter für die Schwestern die für eine jede passende Heirat mit aller Überlegung zuwege gebracht hatte, da kehrte in dieser Zeit der große Basilius, der Bruder der vorgenannten (Makrina), von den hohen Schulen zurück, wo er sich lange zum Studium der Beredsamkeit aufgehalten hatte. Er war mächtig aufgeblasen über sein Wissen in Rhetorik und Logik, verachtete aller anderen Meinungen und hielt sich in seinem Stolze für hoch erhaben über hervorragende Männer, mochten sie eine noch so einflußreiche Stellung innehaben. Diesen gewann sie in so kurzer Zeit für das Leben der Weisheit, daß er auf die eitle Ehre der Welt verzichtete, den durch die Beredsamkeit erworbenen Ruhm verachtete, sich vielmehr einem werktätigen Leben zuwandte, mit seiner Hände Arbeit seinen Unterhalt zu gewinnen, und so durch vollkommene Armut sich seinen Lebensweg für die Tugend frei machte. Sein Leben aber und seine weiteren Taten, durch die er in der ganzen Welt berühmt geworden ist, stellen durch ihren Glanz alle in den Schatten, die sonst durch ihre Tugend hervorragen. Das zu schildern, bedürfte aber einer längeren Darstellung und vieler Zeit. So soll sich denn meine Darstellung wieder dem gestellten Thema zuwenden.
Da ihr (Makrina) nun schon längst die Möglichkeit zu jedem verweltlichten Leben genommen war, überredete sie ihre Mutter, ihr gewohntes Leben aufzugeben, sowohl den prunkhaften Haushalt als auch die Bedienung durch Untergebene, wie sie es in der Vergangenheit gewohnt war, statt dessen in ihrer Gesinnung mit dem einfachen Volke eins zu werden und ihr eigenes Leben mit dem der Jungfrauen zu vereinen, indem sie alle ihre Sklavinnen und Untergebenen zu gleichgeachteten Schwestern machte ...
Sie bewog sie, allen Gewohnheiten zu entsagen, und führte sie zu dem ihr eigenen Maß der Demut, daß sie in der großen Zahl der Jungfrauen auf der gleichen Stufe mit ihnen lebte, Tisch, Lager und alles zum Leben Notwendige mit ihnen gemeinsam hatte, so daß jeder Unterschied in der Lebensführung zwischen ihnen beseitigt war. Und so großartig war ihre Lebensordnung und derartig die Höhe ihrer Liebe zur Weisheit und so erhaben ihr Wandel bei Tag und bei Nacht, daß es mit Worten nicht zu sagen ist. Denn wie die durch den Tod von ihren Körpern gelösten Seelen auch von den Sorgen dieses Lebens befreit sind, so befreite sich ihr Leben von jeder Hoffart des Lebens und ward dem Leben der Engel nachgestaltet. In ihnen war kein Zorn, kein Neid, kein Haß, kein Hochmut noch irgend etwas Derartiges zu beobachten. Verbannt war bei ihnen die Begierde nach der Eitelkeit der Welt, nach Ehre und Ruhm, Stolz und Hoffart und alles Derartige. Üppigkeit war bei ihnen die Enthaltsamkeit, als Ruhm galt ihnen das Nicht-gekannt-werden. Ihr Reichtum war das Nicht-besitzen und alle Schätze dieser irdischen Welt wie Staub von sich abzuschütteln. Die Arbeit aber um die Bedürfnisse dieses Lebens galt ihnen nur als Beiwerk. Einzig die Sorge um den Dienst Gottes war ihr Lebensinhalt, ununterbrochenes Gebet und nie endender Hymnengesang, der sich gleichmäßig über Tag und Nacht erstreckte, so daß darin ihre Tätigkeit und ihre Ruhe bestand.
Eine große Hilfe in dem Streben nach diesem hohen Ziel ihres Lebens war ihr leiblicher Bruder Petrus, das letzte Kind der Mutter. Man konnte ihn zugleich Sohn und Waise nennen; denn zur gleichen Zeit, da er geboren ward, schied der Vater aus dem Leben. Ihn nahm die älteste Schwester, von der hier die Rede ist, nachdem er nur kurze Zeit nach seiner Geburt die Milch der Mutter genossen hatte, alsbald seiner Pflegerin weg, erzog ihn selbst und führte ihn zur vollendeten höheren Bildung, indem sie ihn von Kindheit an in den heiligen Wissenschaften übte, daß für seine Seele überhaupt keine Zeit blieb, sich irdischer Nichtigkeit zuzuwenden. Sie wurde dem jungen Bruder alles: Vater, Lehrer, Erzieher, Mutter, Ratgeber zu jeglichem Guten, und sie brachte ihn, bevor er das Kindesalter überschritten hatte und noch ein Knabe war und in der Blüte der Jugend stand, dahin, sich zu dem hohen Ziel der Liebe zur Weisheit zu erheben. Durch eine glückliche Begabung war er zu jeder handwerklichen Kunst fähig und hatte sich, ohne von jemand unterrichtet zu sein, mit aller Sorgfalt in einer jeden das Können erworben, das den meisten erst nach langer Zeit und unter großen Mühen zu eigen wird. Dieser schätzte also die Beschäftigung mit den Lehren der Heiden gering; er folgte aber als geeigneter Lehrerin zu jedem guten Wissen der Natur. Dabei schaute er immer auf seine Schwester und stellte sie sich als Beispiel alles Guten vor Augen. So wuchs er zu einer solchen Form der Tugend heran, daß er in seinem Leben keinen geringeren Vorsprung in der Tugend zu haben schien als der große Basilius. Damals aber war er Schwester und Mutter alles, indem er mit ihnen an jenem engelhaften Leben mitwirkte.
Als aber eine schwere Hungersnot eintrat und viele von allen Seiten auf den Ruf ihrer Wohltätigkeit hin an den einsamen Ort, da sie wohnten, zusammenströmten, hat er durch seine kluge Vorsorge so viel an Nahrungsmitteln herbeigeschafft, daß die einsame Gegend durch die Menge derer, die gekommen waren, eine Stadt zu sein schien.
(Heilige Frauen des Altertums, hg. von W. Schamoni, Düsseldorf 1963, 58ff; vgl. A. M. Silvas, Macrina the Younger Philosopher of God. Brepols Publishers, Turnhout 2007).