1.
Methodische Vorüberlegung
2.
Religionspädagogische Begründung des Themas
3.
Konfessionstrennung als leitende Fragestellung
4.
Strukturierung des Themas
Drei
charakteristische Phasen
im Ablauf
der auf Luther bezogenen Reformationsgeschichte
Literarisches
Genus
Erweiterung
der Perspektive
Feindbilder
5.
Vorurteile und Feindbilder überwinden
Vorbemerkung: Die folgenden Ausführungen können und wollen weder eine umfassende Darstellung der Reformationsgeschichte noch eine Unterrichtsskizze für eine bestimmte Alters- und Klassensituation bieten. Sie wollen lediglich Anregungen und Hinweise geben für eine sachgerechte Zuordnung von Lernzielen und Unterrichtsmaterialien und eine sachgemäße Strukturierung des Themas. Aus pragmatischen Gesichtspunkten ist der Aspekt hier eingegrenzt auf die lutherische Reformation. Calvin muß hier unberücksichtigt bleiben. (1)
Als
Ziel des Themenfeldes wird formuliert:
»Die
Schüler sollen
-
in Umrissen die Geschichte der Reformation kennen.
-
Die Bedeutung der Reformation für die gegenwärtige
Situation
der Konfessionen darlegen können.«
Untergegliedert
ist das Themenfeld in vier mögliche Einzelthemen:
»1.
Katharer, Ketzer: Die `reine´ Kirche,
2.
Ablässe, Reliquien und Wort Gottes,
3.
Luther und die römische Kirche,
4.
Erneuerte oder neue Kirche.«
(2)
Eine
Begründung dieser thematischen Gliederung wird nicht gegeben.
Wenngleich
es sich hier um »mögliche« Einzelthemen
handelt, so sind
diese nicht beliebig; im Gegenteil, hier werden die entscheidenden
Weichen
für die Behandlung des Themas gestellt. In unserem Fall
führt
die Strukturierung durch die angegebenen Einzelthemen zu einer
verzerrten
Perspektive:
Das
1. Einzelthema holt zu weit aus, ordnet in irreführender Weise
die
Reformation mit dem Stichwort »Katharer« der
»manichäischen
Tradition« (3)
zu und verleitet mit
dem Reizwort »Ketzer« den Schüler zu einer
vorschnellen
negativen oder auch positiven Assoziation.
Das
2. Einzelthema ist eine überproportionale Hervorhebung eines
Einzelaspektes,
der ohne den größeren Zusammenhang der Frage nach
Inhalt und
Datierung von Luthers reformatorischer Erkenntnis in seiner Bedeutung
nicht
eingeordnet werden kann, was etwa daran deutlich wird, daß
für
die Vertreter der Spätdatierung von Luthers reformatorischer
Erkenntnis
der Ablaßstreit noch in Luthers vorreformatorische
katholische Zeit
fällt.
Die
Einzelthemen 3 und 4 sind demgegenüber so umfassend
formuliert, daß
m.E. eine sinnvolle Konkretisierung gegenüber der Formulierung
des
Themenfeldes selbst nicht gegeben ist.
Während
der Zielfelderplan die Begründung einzelner Inhalte und
Lernziele
wenig reflektiert, sehen
G. Biemer und A.
Biesinger in dem von ihnen
vorgestellten Strukturgitter
ein Kriterium für die Beurteilung von Lerninhalten und
Lernzielen.
Für sie ist das Strukturgitter der Ort, »an dem die
Konvergenz
der ... Repräsentanz und Lebensrelevanz stattfindet«
(4).
Für
unser Thema »Reformation« würde das
bedeuten, daß
von der Fachwissenschaft, hier der Kirchengeschichte,
»Reformation
und Gegenreformation« als wichtiger Inhalt (zentraler
Begriff) der
Kirchengeschichte benannt wird. Dieser Inhalt wird dann »auf
die
Grundbefindlichkeiten menschlicher Existenz hin ausgelegt«,
(5) nämlich auf die sogenannten
Koexistentialien:
Diese
Inhalte sind für Biemer und Biesinger zwar nicht normativ,
haben aber
orientierende Funktion. Sie sind nicht normativ, weil sie
»Ergebnisse
darstellen, in die das Vorverständnis der Verfasser mit
eingegangen
ist und somit jede andere Auslegung, die im Schnittfeld der
vorgegebenen
Zentralbegriffe und Koexistentialien bleibt, als legitime
Inhaltsformulierung
anzuerkennen ist« (8).
Das
würde bedeuten, daß von einem anderen
Vorverständnis her
etwa im Koordinatenfeld »Spiel« auch die
gegenteilige Ansicht
»Reformation als Wurzel verstärkter individueller
Bevormundung«
als legitim anzuerkennen wäre.
Ein
weiteres Problem ist die gegenseitige Zuordnung der einzelnen Inhalte.
Für unser Beispiel erhebt sich die für eine Wertung
des Phänomens
Reformation nicht unerhebliche Frage nach dem gegenseitigen
Verhältnis
der genannten Faktoren »soziale Unzufriedenheit«
(Arbeit),
»weltliche Macht« (Herrschaft/Konflikt),
»Evangelium«
(Tod).
Insgesamt
führt dieser Versuch zu einer Verzerrung der Sachproblematik:
Einerseits
wird künstlich und unbegründet aufgebläht,
indem einzelnen
Aspekten eine überproportionale und zudem a priori postulierte
Bedeutung
zugemessen wird, wie etwa dem Aspekt
»Eros/Sexualität«
für den Begriff Reformation
(9). Anderseits
stellt sich die Frage, ob etwa der dem Begriff Reformation wesentlich
näher
stehende Problembereich Konfessionsverschiedenheit innerhalb dieses
Strukturgitters
überhaupt noch als relevantes Problem menschlicher Existenz
zur Geltung
gebracht werden kann. Vielleicht ist es nicht zufällig,
daß
man bei der Formulierung »Liebe und Streit im Namen des
Evangeliums«
im Koordinatenfeld Reformation-Eros/Sexualität nicht recht
weiß,
um welche Liebe und welchen Streit es hier geht (etwa um Ehestreit oder
um Konfessionsstreit), so daß diese Formulierung weder dem
Aspekt
der Repräsentanz noch dem Aspekt der Lebensrelevanz gerecht
wird.
Zumindest für den Bereich der Kirchengeschichte vermag dieses Strukturgitter wohl Anregungen zugeben, nicht jedoch seinem Anspruch gerecht zu werden, Kriterium für die Beurteilung von Lerninhalten und Lernzielen zu sein. Der Grund dafür liegt - abgesehen von der problematischen Reduzierung der Lebensrelevanz auf die angeführten Koexistentialien und dem künstlichen Zwang, jede Thematik auf alle genannten Koexistentialien auszulegen - m.E. darin, daß die grundsätzlich berechtigte Forderung nach der Gleichrangigkeit von Repräsentanz und Lebensrelevanz in ein Strukturgitter umgesetzt wird, in dem beide, Repräsentanz und Lebensrelevanz, gleichzeitig zu Wort kommen. Ein Gespräch zwischen gleichberechtigten Partnern ist aber nicht dann sinnvoll, wenn beide gleichzeitig zu reden beginnen und die Gesprächsthematik bestimmen, sondern dann, wenn der eine auf die Thematik des anderen eingeht und umgekehrt. Dabei können die elementaren Dialog-Vollzüge des Hörens und Sprechens nicht in einen dritten Mischvollzug aufgehoben werden. In Entsprechung zu diesen Grundvollzügen gibt es m.E. zwei Weisen des Lernens und zwei Weisen der Zuordnung von Repräsentanz und Lebensrelevanz. Im ersten Fall steht das Hören und Aufnehmen im Vordergrund: Ich höre eine Erzählung, sehe einen Film, gehe in ein. Warenhaus und werde auf für mich bedeutsame Dinge aufmerksam. Im zweiten Falle steht das gezielte Fragen im Vordergrund: Ich frage jemand um Auskunft, suche eine bestimmte Ware, suche eine Lösung für ein bestimmtes Problem. Dem ersten Fall entspricht die Bereitschaft, mich auf Probleme und Sachbereiche aufmerksam machen zu lassen, die zunächst nicht in meinem Erfahrungs- und Interessenfeld liegen; dem zweiten Fall entspricht das Beiseitelassen des nicht Gefragten und Gesuchten. Dabei ist zu beachten, daß sich beides in einem laufenden Wechselspiel vollzieht. Das Problem liegt in beiden Fällen in der sachgerechten Zuordnung von dem, was ich höre und vorfinde, zu dem, nach dem ich frage und suche, und umgekehrt. Dieses Problem kann ebensowenig mit einem vorgefertigten Strukturgitter gelöst werden, wie etwa die Frage, welches Heilmittel für welche Krankheit geeignet ist oder welche Waren welchen Bedürfnissen entsprechen. Der Sachzusammenhang muß vielmehr jeweils konkret aufgewiesen werden.
Hier liegen m.E. die größten Mängel in der bisherigen Bearbeitung des Themas Reformation, wie nicht nur aus den oben genannten Beispielen hervorgeht. So geht es etwa nicht an, für die Beantwortung der Frage nach den »Kirchen der Reformation« oder dem Glauben der anderen auf Material zu verweisen, in dem die Reformation zwar ausführlich dargestellt wird, aber der Bezugspunkt des Glaubens der anderen, auf den die lutherischen Kirchen in ihren Verfassungen verweisen, nämlich auf die Phase der Bekenntnisbildung (Luthers Kleiner Katechismus, Confessio Augustana), überhaupt nicht erscheint (10). Die Gegenüberstellung von lutherischer und katholischer Lehre im Anschluß an die Flugschriften Luthers von 1520 erheben zu wollen, ist m.E. genau so abwegig, wie die Grundposition einer politischen Partei unter Umgehung des jeweils geltenden Grundsatzprogramms aus situationsbedingten Wahlkampfflugblättern abzuleiten. Entsprechend fragwürdig ist es, die Schüler anzuleiten, aus einem Text aus Luthers Flugschrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« »die Unterschiede zwischen evangelischer und katholischer Auffassung« (11) herauszuarbeiten.
Ein weiterer Begründungszusammenhang ergibt sich aus dem strukturellen Aspekt: Die Analyse der Ereignisse der Reformationsgeschichte vermag Einsichten für ähnliche, nicht unmittelbar wirkungsgeschichtlich bedingte Situationen der Gegenwart zu vermitteln, etwa für die Frage des Ablaufs eines Konfliktprozesses der Entstehung und des Abbaues von Feindbildern, oder verschiedener Modelle von Gesellschaftsveränderung, wie sie etwa im Bauernkrieg deutlich werden (12).
Demnach
ergeben sich, je nachdem,
ob
ausgehend von der Analyse der Reformationsgeschichte
gegenwärtige
Problemsituationen erhellt werden,
oder
umgekehrt von gegenwärtigen Problem-Situationen her die
Reformationsgeschichte
befragt wird, unterschiedlich umgrenzte Thematisierungen.
»In unserem Dialog mit dem Lutherischen Weltbund haben wir angefangen, die starken Bande, die uns im Glauben einigen und die durch die Polemiken der Vergangenheit verschleiert wurden, wiederzuentdecken« (14).Die internationale Gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische Kommission ruft dazu auf:
- »konfessionell bedingte Vor- und Fehlurteile aus den kirchengeschichtlichen und dogmatischen Lehrbüchern zu tilgen und eine ökumenische Betrachtung der Kirchen- und Dogmengeschichte seit dem 16. Jahrhundert zu entwickeln - wozu die gemeinsame katholische-lutherische Untersuchung zur Confessio Augustana ein verheißungsvolles Beispiel ist;
- über den Bereich der theologischen Fachliteratur hinaus die Darstellung der Kirchentrennung der daran beteiligten Kirchen, etwa in Schulbüchern von Vorurteilen zu reinigen und in verstärktem Maße ganz allgemein zu einer kritischen Betrachtung der Geschichte und Gegenwart der je eigenen Kirche zu gelangen.« (15)
Eine solche Einordnung führt m.E. zu drei charakteristischen Phasen im Ablauf der auf Luther bezogenen Reformationsgeschichte.
Drei
charakteristische Phasen
im
Ablauf der auf Luther bezogenen Reformationsgeschichte
Die zweite Phase könnte durch die Überschrift »Die reformatorische Bewegung« gekennzeichnet werden. In ihr wird Luther durch seine Verurteilung durch Rom zum Sammelpunkt und Aushängeschild einer breiten Bewegung, die von verschiedenen Gruppen getragen wird, die jeweils in unterschiedlichen Konfliktsituationen mit den verschiedenen Gruppen des Klerus stehen und sich mit dem Kampfruf »für das reine, lautere Evangelium, gegen die Menschensatzungen und gegen die Vorrechte des Klerus« der neuen Lehre anschließen, obwohl sie selbst untereinander in gegensätzlichen Interessen lagen sich befinden. Vorherrschend ist hier das literarische Genus der polemischen Flugschrift.
Die dritte Phase, überschrieben mit »Das reformatorische Bekenntnis«, ist charakterisiert durch das literarische Genus Katechismus, Visitationsartikel und Lehrbekenntnis. In dieser Phase geht es um die Konstituierung und den Aufbau der neuen reformatorischen Gemeinden.
Für
das Verhältnis der Konfessionen ist nun von entscheidender
Bedeutung,
in welcher Phase der eigentliche Bezugspunkt gesehen wird.
Im
folgenden soll zunächst die zweite Phase in Beziehung zur
dritten
gesetzt werden:
Die
zweite
Phase, deren zeitlicher Schwerpunkt etwa zwischen 1520 und
1525 anzusetzen
ist, ist zunächst bestimmt durch Überlagerung
der Theologie
durch gesellschafts- und machtpolitische Interessen. Dies
gilt als
Ausgangspunkt für die katholische Seite in der Umsetzung der
geistlichen
Struktur des kirchlichen Amtes in konkrete gesellschaftspolitische
Vorrechte
des geistlichen Standes, wie sie auch aus der
innerkatholischen Kritik
an dem ungeistlichen, geld- und machtgierigen Verhalten des Klerus
(angefangen
vom Papst und den römischen Höflingen, den
Bischöfen und
Prälaten und Domherren bis hin zu den Pfarrern und
Hilfspriestern)
deutlich wird. Diese Kirchenkritik findet Ausdruck z. B. in den auf dem
Reichstag zu Worms 1521 vorgelegten Beschwerden gegen die Geistlichkeit
(17), in der Schrift des Bischofs Berthold von
Chiemsee »Onus
ecclesiae« von 1519
(18) oder in
der Instruktion von 1522 der Bayernherzöge für die
Vorbereitung
der Reformsynode von Mühldorf
(19),
oder auch in dem Schuldbekenntnis von Papst Hadrian VI. auf dem
Reichstag
zu Nürnberg 1523, das Papst Johannes Paul II. in seiner
Ansprache
an die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen vom 17. November 1980
in
Mainz sich zu eigen machte (20).
Zu
beachten ist dabei, daß der geistliche Stand nicht durch die
Priesterweihe
(Ordination) bestimmt ist, sondern durch die Tonsur bzw. die
Klostergelübde,
wie etwa aus Art. 30 des Entwurfs der Beschwerden der deutschen Nation
(21) oder auch aus der Definition des geistlichen
Standes deutlich
wird, die Luther zu Beginn seiner Flugschrift »An den
christlichen
Adel deutscher Nation« gibt
(22).
Luthers Gegenposition: Alle Getauften sind geistlichen Standes, ist auf
diesem Hintergrund zu werten. Sie richtet sich gegen
gesellschaftspolitische
Vorrechte und argumentiert daneben auf der Basis der mittelalterlichen
Verengung der Definition des Priesters als Opferpriester.
Eine
umfassende theologische Grundlegung einer reformatorischen
Amtsauffassung
ist m.E. erst aus den Zeugnissen der dritten Phase, hier insbesondere
der
Augsburger Konfession, zu erheben, in der versucht wird,
unabhängig
von der konkreten vorgegebenen geschichtlich und gesellschaftspolitisch
überlagerten Form positiv von der Schrift her nach der
geistlichen
Struktur des kirchlichen Amtes zu fragen und von der biblischen Aussage
der Sendung her zu verstehen
(23).
Eine
ähnliche Entkoppelung von politischer und theologischer
Argumentation
und Interessenlage wird in der Confessio Augustana im Blick auf die
Frage
des Bischofsamtes versucht. Während in der zweiten Phase
Städte
durch Berufung auf das Evangelium sich von den verschiedenen
Einflußmöglichkeiten
des Bischofs, der ja auch weltlicher Fürst war, frei zu machen
versuchten,
und umgekehrt weltliche Fürsten durch die Einführung
der Reformation
sich als Notbischöfe auch Einfluß auf die Kirche
verschaffen
konnten, sucht die Confessio Augustana in Artikel 28 die
innerkirchliche
Verantwortung dem Bischofsamt als innerkirchlichem Hirtenamt
zuzusprechen
(24).
Ähnlich
stehen in der Polemik der frühen zwanziger Jahre gegen den
Papst als
Antichrist die weltlichen Herrschaftsansprüche des Papstes und
seines
römischen Hofes im Vordergrund
(25),
während die Confessio Augustana eine Aussage zu dieser
Thematik vermeidet,
wohl weil Melanchthon diese Frage in die Schuldisputation verweisen
möchte
(26).
Unter
dem Aspekt einer Theologie des Volkes könnte eine solche
Entkoppelung
von politischer und theologischer Argumentation vielleicht mit
Mißtrauen
bedacht werden, in dem Sinn, daß hier die berechtigten
Belange der
politisch Benachteiligten und Unterdrückten preisgegeben
werden; doch
ist die Situation hier komplexer.
So
führt etwa der Kreis um Hutten und Sickingen auf der
Ebernburg, der
ja die erste Gruppe darstellt, die sich entschlossen auf die Seite
Luthers
stellt, für die eigenen Standesinteressen die Berufung auf das
Evangelium
und die Proklamation des Pfaffenkrieges ins Feld. So versucht Sickingen
auf seinem Kriegs- und Raubzug gegen Trier die Untertanen seiner Gegner
zu überreden: »Ich begehre Euch zu erlösen
von dem schweren
endchristlichen Joch und Gesetz der Pfaffenheit und zu evangelischen,
lichten
Gesetzen und zu christlicher Freiheit zu bringen.«
(27) Letztlich hat hier die Berufung aufs
Evangelium aber die
Funktion, darüber hinweg zu täuschen, daß
Leid und Tod
des vom Krieg betroffenen kleinen Mannes nur den Standesinteressen
einer
kleinen Gruppe dienen sollte.
Ähnlich
wird in der aus demselben Kreis stammenden Schrift
»Gesprächsbüchlein
Neu Karsthans« versucht, durch Verweis auf die Pfaffen als
die eigentlichen
Feinde die Interessenunterschiede zwischen Ritter und Bauern zu
überspielen
(28).
Auch
im einzelnen dient etwa die reformatorisch begründete
Forderung nach
Abschaffung der Feiertage (29)
mehr den
Interessen der Ritter als denen des einfachen Mannes.
Ähnlich
versucht dieselbe Schrift, den Bauer von der durchaus berechtigten
Vorstellung
abzubringen, daß die Kirche das Spital des Adels sei,
daß also
Mißstände in der Kirche mit darauf
zurückzuführen
seien, daß die Kirche Versorgungsanstalt für den
Adel geworden
ist (30).
In der Auseinandersetzung mit einer Werkgerechtigkeit steht zu Recht die Betonung der im Evangelium geschenkten Gnade im Vordergrund, unscharf bleibt die Betonung des Anspruchscharakters des Evangeliums. Dieser Aspekt wird erst aktuell in der Auseinandersetzung mit den Mißdeutungen des reformatorischen »sola fide«. So kann eine umfassende Darstellung lutherischer Rechtfertigungs- und Bußlehre nicht ohne Berücksichtigung dieses Aspektes, wie er etwa im Unterricht der Visitatoren oder der Confessio Augustana deutlich wird (32), erfolgen.
Ähnlich
hat die
Schrift
in der Front der Scheidung
von Evangelium und Menschensatzungen, wie sie in der zweiten Phase im
Vordergrund
steht, eine andere Funktion, als etwa in der Auseinandersetzung
über
die Konkretisierung des Evangeliums, wie sie z. B. im Abendmahlsstreit
zwischen Luther und Zwingli erfolgte. Die jeweils andere Perspektive
ist
m.E. die Ursache dafür, daß Melanchthon zu Beginn
der zwanziger
Jahre die Auffassung vertritt, nur das sei festzuhalten, was in der
Schrift
stehe, dagegen in der Auseinandersetzung des Abendmahlstreites den
Konsens
der alten Kirchen betont, von dem nicht abzuweichen sei, wenn nicht
explizite
Schriftzeugnisse dagegen sprächen
(33).
Diese
geänderte Perspektive findet ihren Niederschlag in der
positiven Wertung
der Entscheidungen der ersten Konzilien, wie sie in
Luthers Bekenntnis
vom Abendmahl und in der Confessio Augustana begegnet
(34).
Von
daher wird die im Schulbuch übliche Schlagwortschematisierung:
evangelische
Auffassung: Allein die Schrift, katholische Auffassung: Schrift und
Tradition,
sehr fragwürdig, ganz abgesehen davon, daß
»allein die
Schrift« ganz unterschiedliche Positionen, etwa einen
strikten Biblizismus,
der auch den Reichsgesetzen ihre Geltung abspricht, oder die
Anerkennung
der Schrift als normierende Norm der kirchlichen Aussagen, bezeichnen
kann.
Obwohl Luther diese Ausschreitungen nicht gebilligt hat, wird er doch von katholischer Seite dafür verantwortlich gemacht, weil sie von Leuten ausgeführt wurden, die sich selbst als Anhänger der neuen Lehre, als lutherisch und evangelisch verstanden, und weil man von daher vereinzelten Äußerungen Luthers, die als Aufruf zur Gewalt verstanden werden konnten, überproportionale Bedeutung zusprach (37).
Ferner
ist das katholische Bild der Reformation bestimmt von
Häresienkatalogen,
in denen einseitig überspitzte Äußerungen
Luthers und anderer
Reformatoren - überwiegend aus den frühen zwanziger
Jahren -
gesammelt und tradiert wurden.
Als
Beispiele seien angeführt:
»Mit
Notwendigkeit geschieht alles für alle
Kreaturen«.
»Gott
macht, daß wir sündigen.«
»Gottes
eigentliches Werk ist der Verrat des Judas ebenso wie die Berufung des
Paulus.«
»Je
verbrecherischer du bist, desto schneller gießt dir Gott die
Gnade
ein.«
»Die
Zehn Gebote gehen die Christen nichts an.«
»Der
Getaufte kann, auch wenn er wollte, sein Heil nicht verlieren, weil ihn
keine Sünden verdammen können, sondern nur der
Unglaube.«
»Die
Erfindung der Sakramente ist neu.«
»Die
ganze Wirksamkeit der Sakramente des neuen Bundes ist der Glaube
selbst.«
Von
solchen Sätzen her verstand man katholischerseits das
lutherische
»sola fide«,
und dieses so verstandene
»sola fide« war wieder der
Schlüsselbegriff zum Verständnis
der lutherischen Lehre überhaupt
(38).
Dadurch,
-
daß einzelne Erfahrungen verallgemeinert werden,
-
daß Randgruppen als typisch und repräsentativ
angesehen werden,
-
daß überspitzte Formulierungen ohne Kontext tradiert
werden,
-
daß Korrekturen und Differenzierungen nicht zur Kenntnis
genommen
oder nicht als ehrlich gemeint akzeptiert werden,
entsteht
ein Feindbild lutherischer Lehre, das einerseits unbewußt
auch von
Gutgesinnten weitergegeben wird, aber anderseits auch bewußt
zur
besseren Bekämpfungsmöglichkeit des Gegners aufgebaut
und eingesetzt
wird (39).
Nach denselben Mechanismen entstand auch ein evangelisches Feindbild katholischer Lehre, etwa dadurch, daß die von Luther und den Bekenntnisschriften abgelehnte Position einer Schulrichtung innerhalb der katholischen Theologie, etwa der Position von Gabriel Biel († 1495), daß der Mensch aus rein natürlichen Kräften Gott über alles lieben und so das Gesetz Gottes der Sache nach erfüllen kann (40), als repräsentativ für die katholische Seite überhaupt angesehen wurde oder negative Erfahrungen als Schlüssel zum Verständnis der anderen Seite gewertet wurden oder Korrekturen und Differenzierungen etwa in der Meßopferlehre und Mariologie nicht angenommen werden.
Aufgabe des Religionsunterrichtes sollte es sein, solche Vorurteile und Feindbilder zu überwinden, und nicht, sie durch vorschnelle Schematisierungen und Schlagworte weiter zu verfestigen. Dies bedeutet keine Relativierung der Wahrheitsfrage, sondern ermöglicht erst umgekehrt, die andere Seite unvoreingenommen ernst zu nehmen und den von ihr vertretenen Aspekt der Wahrheit nicht polemisch abzuweisen.
So ist heute für beide Seiten wichtig, die reformatorische Betonung der Gnade zu Gehör zu bringen, wie sie für Luther im sogenannten Turmerlebnis (41) zur befreienden Erkenntnis wurde und im evangelischen Kirchenlied, im Gemeindekatechismus und im Lehrbekenntnis ihren Niederschlag findet, nämlich daß der Mensch sich nicht selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und nicht aus sich heraus ohne Gott selbstlos und gut sein und den Frieden mit Gott schaffen kann, sondern daß Gemeinschaft und Friede in der Öffnung auf Gott hin von Ihm geschenkt wird.
In gleicher Weise ist es auf dieser Basis für beide Seiten wichtig, die Betonung des Anspruchs der Gnade und die biblische Mahnung, Christus im Nächsten zusehen, nicht zu verharmlosen.
Wenn
dies auch nur fragmentarische Bemerkungen blieben, und vieles nicht
näher
ausgeführt werden konnte, so möchten sie doch den
Dialog anregen,
um neu zu entdecken,
------------------------------------------------------------------------------------------------------------
*
Erstveröffentlichung:
Katechetische Blätter 106, 1981,204-211. Für das
Internet überarbeitete
Fassung
1.
Vgl. zur Einführung: Die Reformation in Augenzeugenberichten.
Hrsg.
von H. Junghans, München 1967 = dtv 887
(Neuaufl. 2705). [Repräsentativste
Quellenauswahlsammlung, weitere Titel in: E.
Büssem/M. Neher (hrsg.),
Arbeitsbuch Geschichte. Neuzeit 1. Repetitorium, München 41979,
S. 360]; E. Iserloh, Geschichte und Theologie der
Reformation, Paderborn
1980; R. Stupperich, Die Reformation in
Deutschland, München
1972. dtv 3202 = GTB 1401; E. K. Sturm, Geschichte
der Reformation
im Unterricht, Gütersloh 1975; A. Läpple,
Die Reformation
im Kirchengeschichtsunterricht, in: rhs 23, 1980, 285-295; G.
Müller,
Die Reformation und die gegenwärtige Christenheit,
Nürnberg 1980
= Erlanger Universitätsreden Nr. 7 vom Nov. 1980, 3. Folge.
2. Zielfelderplan
für den kath. Religionsunterricht der Schuljahre 5-10
(Sekundarstufe
I). Themenfeldskizzen der Schuljahre 7 und 8, München 1974, S.
122-125.
4. G. Biemer/A.
Biesinger, Theologie im Religionsunterricht, München
1976, S.
109.
9. Umgekehrt
fehlt in dieser Übersicht für
Eros/Sexualität ein Bezug
zur Auseinandersetzung der Kirche mit der gnostischen und
manichäischen
Tradition.
10. Vgl.
W.
Blasig/W. Bohusch, Von Jesus bis heute, München
1973, S. 205 und
Kap. 21.
11. Vgl.
H.
Gutschera/J. Thierfelder, Brennpunkte der Kirchengeschichte,
Paderborn
1976, S. 132 f.
12. So
besteht etwa das Veränderungsmodell der
»Zwölf Artikel«
in der Abschaffung konkret benannter Mißstände, des
von Thomas
Müntzer
der Vernichtung der(nicht näher sozialpolitisch
charakterisierten)
Gottlosen durch die Gruppe der Auserwählten um Müntzer.
13. Vgl.
Um Amt und Herrenmahl. Dokumente zum evangelisch-katholischen
Gespräch.
Hrsg. von G. Gaßmann
u. a. , Frankfurt 1974; Das kirchenleitende
Amt. Dokumente zum interkonfessionellen Dialog über
Bischofsamt und
Papstamt, hrsg. von G. Gaßmann
und
H. Meyer, Frankfurt
1980; Gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische
Kommission,
Das Herrenmahl, Paderborn 1978; Dies. , Wege zur Gemeinschaft.
Paderborn
1980; Die Taufe, die Eucharistie, das Amt, in: Beih. 27 zur
ÖRu 1975,
S. 94-103. Im Rahmen der Erwachsenenbildung vermag etwa die Aufgabe,
Textauszüge
aus diesen Dokumenten als katholische oder evangelische Texte zu
bestimmen,
vielfach noch verbreitete Vorurteile aufzuzeigen.
14. Ansprache
von Papst Johannes Paul II. an die Vollversammlung
des Einheitssekretariates
(KNA ÖKI Dokumentation Nr. 8, 5. 3. 1980).
15. Gemeinsame
römisch-katholisch/evangelisch-lutherische Kommission, Wege
zur Gemeinschaft,
Paderborn 1980 Nr. 59, S. 29.
16. Nach
den Verfassungen der lutherischen Kirchen und des Lutherischen
Weltbundes
bilden Luthers Kleiner Katechismus und die
Confessio Augustana Hauptorientierungspunkte
lutherischen Selbstverständnisses. Für den
gegenwärtigen
kath. -luth. Dialog vgl. Die »Stellungnahme der Gemeinsamen
römisch-katholischen/evangelisch-lutherischen
Kommission zum Augsburger Bekenntnis«. »Alle unter
einem Christus«,
Nr. 7f. Gem. röm. -kath. /evang. -luth. Kommission, Wege zur
Gemeinschaft,
Paderborn 1980, S. 56).
17. Vgl.
DRTA JR II 662-666 (Herzog
Georg von Sachsen); ebd. 670-704.
18. Vgl.
dt. Textauszug bei J. Janssen/L. von Pastor,
Geschichte des deutschen
Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters. Bd. 1. , Freiburg 913, S.
737ff.;
J.
Schmuck, Die Prophetie »Onus Ecclesiae«
des Bischofs
Berthold
Pürstinger, Wien 1973.
19. Text
in: Die Reformation in Augenzeugenberichten 135-139; ARC I S. 6-10.
20. Text
in: DRTA JR III 393-399, bes. S. 397; dt. Textauszug in:
L. von Pastor,
Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance und
Glaubensspaltung,
Bd. IV/2, S. 91-94.
22. WA.
5, 407, 10 ff. Vgl. V. Pfnür,
Katholisch-lutherische Verständigung
über das Augsburger Bekenntnis, in: Ökumenisches
Forum. Grazer
Hefte für konkrete Ökumene. Nr. 2, 1979, S. 76f.
23. Vgl.
Confessio Augustana (CA) 28, 6. 21.
25. Vgl.
Hutten an Papst
Leo X: ». . . sorge, nicht wie du dich
bereicherst,
sondern wie wir geweidet werden« (Walch2
XV, 1458); Passional
Christi und Antichristi (WA 9, 701-715); Flugschriften des
frühen
16. Jahrhunderts (1501-1530) auf Microfiche. Hrsg. von
H.-J. Köhler
u.a.,
Zug (Schweiz 1978ff., Nr. 789); Artikel und Irrthum in des geistlichen
Rechts und päpstlichen Büchern, darum sie billig zu
verbrennen
und zu meiden sind (WalchXV, 1621 ff.).
27. Die
Reformation in Augenzeugenberichten 247.
28. Text,
in: Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 1.
Gütersloh 1960,
S. 406-444, bes. 442ff.
29. Vgl.
ebd. 444, Artikel 24.
30. Vgl.
ebd. 439; Thomas Murner
schreibt in seiner Schrift »An den
Großmechtigsten . . . adel tütscher
nation« (in Erwiderung
auf WA 6, 452, 5 ff.): »Das aber die alten stifft und
thüm für
des adels kinder seient erstiffet worden. . . hie redt der heilig geist
nit uß dir Luther. . . dan du sprichst wir seient alle
geistlichs
stats/ seint wir nun alle eines stats / warumb gipstu der
edelleüt
kinder die freiheit vor allen andren / du meinst filleicht das Christus
nur eddelleüt in seinen höchsten thm der XII. botten
genummen
hab« (Deutsche Flugschriften zur Reformation [1520-1525].
Hrsg. von
K.
Simon, Stuttgart 1980 [reclam 9995] S. 163).
31. Vgl.
V. Pfnür, Einig in der Rechtfertigungslehre. Wiesbaden 1970,
S. 291f;
ebd. 314f. ; ders. , Die Einigung bei den
Religionsgesprächen
von Worms und Regensburg 1540/41 eine Täuschung?, in: Die
Religionsgespräche
der Reformationszeit, hrsg. von G. Müller,
Gütersloh 1980.
32. Unterricht
der Visitatoren (1528): Von der Lehre:«Aber wie viele
predigen jetzt
allein von der Vergebung der Sünde und sagen nichts oder wenig
von
der Buße . . .« (Reformatorische
Verkündigung und Lebensordnung,
hrsg. von R. Stupperich, Bremen 1963, S. 25, vgl.
ebd. 50ff.), vgl.
E.
Iserloh, in: HbKG (Jedin) IV, S. 357ff. ;
CA 12.
33. Vgl.
V.
Pfnür, Einig in der Rechtfertigungslehre 19, 15.
34. Vgl.
WA 26, 500ff. ; CA 1. 3.
35. Die
Reformation in Augenzeugenberichten S. 248 f.
36. Vgl.
ebd. 164 ff. ; ARC I, 499,
V. Pfnür, Die Einigung in der
Rechtfertigungslehre
bei den Religionsverhandlungen auf dem Reichstag zu Augsburg 1530,
in:Confessio
Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit
der Kirche, hrsg. von
E. Iserloh, Münster 1980, 350ff. ; ders.
, Einig in der Rechtfertigungslehre 315 f. , 321. .
37. Vgl.
WA 6, 347, 22-27; 585, 2ff. ; WA 8, 138f. Vgl. DRTA JR II 646, 23 ff. M.
Brecht, Curavimus enim Babylonem, et non est sanata, in:
Reformatio
ecclesiae. Festgabe für
Erwin Iserloh, Paderborn 1980, S. 581-595.
38. Einzelnachweise
bei: V. Pfnür, La Confession d'Augsbourg
une confession lutherienne
et catholique, in: Le point theologique, 37. La Confession d'Augsbourg,
Paris 1980, S. 54-56. Vgl. ders. , Das
tridentinische und die nachtridentinischen
Bekenntnisse der römisch-katholischen Kirche und die Confessio
Augustana,
in: Studien zur Bekenntnisbildung. Hrsg. von P. Meinhold,
Wiesbaden
84-98; ders., Zur Verurteilung der reformatorischen
Rechtfertigungslehre
auf dem Konzil von Trient, in: AHC 8, 1976, 407-428.
39. Vgl.
V.
Pfnür, Die Einigung bei den
Religionsgesprächen von Worms
und Regensburg 1540/41 eine Täuschung? (s. o. Anm. 31).
40. Vgl.
V.
Pfnür, Die Einigung in der Rechtfertigungslehre bei
den Religionsverhandlungen
auf dem Reichstag zu Augsburg 1530, (s. o. Anm. 36) S. 346-348.
41. Vgl.
Die Reformation in Augenzeugenberichten 37ff. ; WA 56, 271 f. ; Luther
Deutsch, hrsg. von K. Aland, Bd. 10, S. 14f. (Brief
an
Georg
Spenlein vom 8. April 1516).
42.
Grußwort
Papst Johannes Pauls II. zum 450. Gedenktag der
Übergabe der
Augsburger Konfession (Una Sancta 35, 1980, 197).
»wie
breit und fest die gemeinsamen Fundamente unseres christlichen Glaubens
gegründet sind«
(42).