Christliche Sibyllen

Augustinus, De civitate Dei - Über den Gottesstaat, Buch XVIII, c.23:
Die Christusweissagungen der erythräischen Sibylle

In diese Zeit verlegen manche die Weissagungen der erythräischen Sibylle. Varro überliefert nämlich, es habe mehrere, nicht bloß eine Sibylle gegeben. Aber gerade die erythräische Sibylle hat einige Weissagungen aufgeschrieben, die offenkundig auf Christus deuten. Ich lernte sie zunächst lateinisch kennen, und zwar in schlechtem Latein und holperigen Versen, die, wie ich später erfuhr, auf Rechnung eines ungeschickten Übersetzers kommen. Denn der bekannte Flaccianus, einst Prokonsul und ein Mann von großer Redegewandtheit und Gelehrsamkeit, hat mir bei einem Gespräch über Christus eine griechische Handschrift gezeigt, die, wie er sagte, die Gesänge der erythräischen Sibylle enthielt, und mich darauf aufmerksam gemacht, daß an einer Stelle die Anfangsbuchstaben aufeinanderfolgender Verse die Worte ergeben:

Iesous chreistos theou yios soter, das ist Jesus Christus, Gottes Sohn, Heiland.
Diese Verse, deren erste Buchstaben, wie gesagt, den angeführten Sinn haben, hat ein anderer in richtigem Latein und glatteren Versen folgendermaßen wiedergegeben: ...
Wenn wir also die Anfangsbuchstaben all dieser Verse in der vorliegenden Reihenfolge verknüpfen..., so ergehen sich die fünf Worte — freilich nicht in unserer, sondern in griechischer Sprache — :
»Jesus Christus, Gottes Sohn, Heiland«.
Es sind aber siebenundzwanzig Verse, eine Zahl, die das Quadrat von drei zum Kubus erhebt. Denn drei dreimal genommen ergehen neun, und nimmt man auch neun dreimal, so daß die quadratische Fläche zur Höhe eines Würfels aufsteigt, erhält man siebenundzwanzig. Stellt man nun die Anfangsbuchstaben jener fünf griechischen Worte:
Iesous chreistos theou yios soter, also auf deutsch: Jesus Christus, Gottes Sohn, Heiland zusammen, erhält man das Wort Ichthys Fisch, ein Wort, das, mystisch verstanden, Christus bedeutet, weil Christus im Abgrund dieser Sterblichkeit wie in Meerestiefen lebendig, daß heißt sündlos, bleiben konnte.
 
 

VI. Buch, V. 1-28: Hymnus auf Christus

Singen will ich aus Herzensgrund von dem großen, berühmten
Sohn des Unsterblichen, dem seinen Thron gab der höchste Erzeuger
Vor der Geburt; denn im Fleisch, das ihm ward, trat er auf und
Ließ sich taufen im strömenden Wasser des Jordanflusses,
Der mit bläulichem Fuß seine Wogen wälzend dahinrollt:
Feurigem Glanze entsteigend er schaut Gottes lieblichen Geist, der
Kommt vom Himmel herab in der Taube weißem Gefieder.
Aufblühen wird eine reine Blüte, es springen die Quellen.
Zeigen wird er den Menschen die Wege und zeigen die Pfade
Himmelwärts und auch alle mit weisen Worten belehren,
Führt sie zum Recht und bekehrt die verstockten Herzen des Volkes,
Laut bekennend den ruhmreichen Stamm seines himmlischen Vaters,
Wandelt zu Fuß übers Meer und von Krankheit befreit er die Menschen.
Wecken wird er die Toten zum Leben, verscheuchen viel Schmerzen.
Aber aus einem Ranzen mit Brot er sättigt die Menschen,
Wenn Davids Haus seinen Schößling treibt. Aber in seiner Hand ruht
Alle Welt: die Erde sowohl wie das Meer und der Himmel.
Hinblitzen über die Erde wird er, wie ihn einstmals erscheinen
Sahen die zwei, aus den Seiten erzeugt voneinander.
Da wird die Erde sich freuen der Hoffnung auf dieses Knäblein.
Dir, sodomitisches Land, allein sind Leiden beschieden:
Deinen Gebieter und Herrn verstießest du feindlichen Sinnes,
Als er im Fleische erschien; aus spitzigen Dornen geflochten,
Drücktest du ihm die Krone aufs Haupt, zu frevelem Tranke
Hast du ihm Galle gemischt: das bringt dir bittere Leiden.
O du gepriesenes Holz, auf dem ausgestreckt war der Herrgott,
Nicht mehr birgt dich die Erde, am Firmamente erscheinst du,
Wenn dein feuriges Auge, o Gott, wird erblitzen am Himmel.

(Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Bd. II Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, hg. von Edgar Hennecke / Wilhelm Schneemelcher. - Tübingen: J.C.B. Mohr 1964, S. 509f)
 


JESUS CHRISTUS GOTTES SOHN ERLÖSER KREUZ

Jedes Geschöpf auf Erden erwartet den Richttag in Angstschweiß.
Endlich erscheint vom Himmel herab der ewige König,
Seiner Verheißung getreu, was Fleisch ist auf Erden, zu richten.
Und es erblicken sodann die Sterblichen, seien sie gläubig,
Seien sie Feinde des Glaubens, am Ende der Zeiten den Höchsten:
Christum, gefolgt von der Heiligen Schar, der alles, was Fleisch ist,
Richtet, sobald verdorrt ist das Land und Dornen nur sprießen.
Ihre armseligen Götzen verwerfen die Menschen mit Abscheu,
Spähendes Feuer verzehrt den Himmel, die Erd' und des Meeres
Tosende Flut und verbrennt die Kerkertore des Hades.
Und an das Licht der Freiheit gelangt von den Toten ein jeder,
So sich im Leben bewährt; die Bösen erwartet das Feuer.
Gründlich und offen bekennt, was er heimlich gesündigt, ein jeder.
Ohne Erbarmen durchleuchtet der Herr des Herzens Geheimnis.
Tausende heulen vor Wut, man hört das Knirschen der Zähne.
Traurig verbleichen die Sterne, der Glanz der Sonne verliert sich.
Ebenso schwindet der Mond. Es wankt das Himmelsgewölbe.
Schluchten und Täler erblickst du nicht mehr, die Berge versinken:
Scheidet ja doch auch Menschen nicht mehr der leidige Rangstreit.
Offenes Land ersetzt die Gebirge, und keines der Meere
Hat jetzt Schiffe zu tragen. Die Erde ist dürr und vertrocknet.
Nicht mehr murmelt der Quell, die rauschenden Ströme versiegen.
Eines nur störet die Stille des Tods: der Klang der Trompete.
Ruchlose Greuel beklagt sie, beklagt den Jammer der Menschheit.
Lüstern nach menschlichem Fleisch gähnt furchtbar des Tartarus Rachen.
Öffentlich flehn um gnädigen Spruch die stolzesten Herrscher.
Schwefliger Dampf, dem Feuer gesellt, ergießt sich vom Himmel.
Ein verläßliches Zeichen, ein kenntliches Siegel indessen
Richtet die Gläubigen auf: das Kreuz, die Säule der Hoffnung;
Kraft verleiht es den Frommen, zum Ärgernis dient es den Bösen,
Rettet und heilt die Erwählten in zwölffach sprudelnder Quelle,
Eint als eiserner Stab in der Hand des Hirten die Völker.
Unsern Erlöser und Herrn, den Ewigen habe ich also
Zum Gedächtnis der Welt in Akrostichen besungen.

Er war bezeichnet, da Moses streckte die heiligen Arme
Siegend ob Amalek im Glauben, dem Volke zur Kenntnis,
Daß erwählt bei Gott dem Vater und immer geehrt sei
Davids Rute, sowie auch der Stein, den er einstens versprochen,
Dem man gläubig vertrauen soll, um ewiges Leben zu haben.
Denn nicht in Herrlichkeit, sondern als Mensch wird er kommen auf Erden,
Elend, entehrt, unansehnlich, den Elenden Hoffnung zu geben.
Er wird vergänglichem Fleische Gestalt und himmlischen Glauben
Den Ungläubigen geben und ausgestalten den Menschen,
Welchen im Anfang Gottes heilige Hände geschaffen,
Und den die Schlange betörte, daß nun er zum Schicksal des Todes
Kam und nach Wunsch die Erkenntnis gewann vom Guten und Bösen,
So daß er Gott verließ und huldigte sterblichem Wesen
Ihn auch nahm als Berater im Anfang Gott der Allmächt'ge,
Sprechend die Worte: "So wollen wir beide zusammen, mein Kind, nun
Sterblicher Menschen Geschlecht abbilden nach unserem Gleichnis!
Jetzt will ich mit den Händen, doch du alsdann mit dem Logos
Sorgen für unsre Gestalt und gemeinsam schaffen Erstehung!"
Dieses Beschlusses gedenkend wird er jetzt kommen auf Erden,
Das nachahmende Ebenbild bringend der heiligen Jungfrau
Und mit Wasser taufend zugleich durch ältere Hände,
Alles bewirkend durchs Wort und heilend jegliche Krankheit.
Durch sein Wort wird er stillen die Winde und glätten die Meergut,
Während sie tobt, sie mit Füßen des Friedens, im Glauben betretend
Mit fünf Broten zumal und einem einzigen Seefisch
Wird in der Wüste er sätt'gen fünftausend hungrige Menschen.
Und mit den übriggebliebenen Brocken allein wird er füllen
Zwölf gewaltige Körbe zur Hoffnung der schmachtenden Völker.
Und er wird rufen die Seelen der Sel'gen, die Elenden lieben,
Die zwar boshaft verspottet, doch Böses mit Gutem vergelten,
Und trotz Schlägen und Peitschenhieben nach Armut sich sehnen.
Alles merkend und alles erschauend und alles erhörend,
Wird er ins Herz tief blickend das Inn're zur Prüfung enthüllen;
Denn er selber ist aller Sicher und Verstand und Gesichte.
Und das Wort, das die Welten erschuf und dem alles gehorsam,
Das sogar Tote erweckt und Heilung bringet den Siechen,
Kommt in der Bösen Gewalt, gottloser, ungläubiger Menschen.
Schläge versetzen dem Gott ruchlose, unheilige Hände,
Und aus ekelem Mund besudelt ihn giftiger Speichel.
Er aber bietet geduldig den blutigen Rücken der Geißel.
Trotz aller Schläge wird stille er schweigen, daß keiner erkenne,
Wer und wessen er sei und woher, um die Toten zu rufen.
Und von Dornen den Kranz wird er tragen; denn immerdar kommen
Wird aus den Dornen der Kranz der Heiligen, welche erwählt sind.
Auch schlägt man mit dem Rohr seine Seite nach ihrem Gesetze ...
Doch wenn all dies dann sich erfüllt hat, was ich geredet,
Dann wird in ihm sich lösen jedes Gesetz, das von Anfang
Wegen des trotzigen Volkes durch menschliche Satzungen aufkam.
Doch er wird ausbreiten die Hände und messen das Weltall.
"Und sie reichten ihm Galle zur Speise und Essig zum Trinken":
Solchen ungastlichen Tisch ihm werden die Gottlosen zeigen.
Und der Vorhang zerreißt im Tempel, und mitten am Tage
Wird drei Stunden hindurch ganz dunkle gewaltige Nacht sein.
Denn nicht mehr nach geheimem Gesetz noch im Tempel verborgen
Vor den Erscheinungen in dieser Welt den Gottesdienst zu halten
Wurde gezeigt, als der ewige Herrscher auf Erden herabstieg.
Und dann steigt er zur Hölle hinab, den Seelen der Frommen
Hoffnung zu künden, das Ende der Zeit und den jüngsten der Tage.
Wo ist dein Stachel, o Tod, wenn jener drei Tage entschlafen?
Denn dann kehrt er zurück ans Licht aus dem Reiche des Hades
Auferstehung und Leben den Auserwählten zu bringen