Luther, Vorrede
zum 1. Bd der Gesamtausgabe seiner lateinischen Werke, Wittenberg
1545
Inzwischen war ich in diesem Jahr [1518/19] bereits zur erneuten Psalterauslegung zurückgekehrt, da ich darauf vertraute, daß ich nun geübter sei, nachdem ich die Briefe des hl. Paulus an die Römer, an die Galater und den an die Hebräer in den Vorlesungen behandelt hatte. Ich war ja von einem bewundernswerten Verlangen ergriffen war, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen. Aber mir hatte bis dahin nicht die Kälte des Herzens im Wege gestanden, sondern ein einziges Wort, das im ersten Kapitel [1,17] steht: Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm [dem Evangelium] offenbar. Denn ich haßte dieses Wort "Gerechtigkeit Gottes", das ich durch den Gebrauch und die gewohnte Verwendung bei allen Gelehrten gelehrt worden war, philosophisch zu verstehen von der, wie sie sagen, formalen oder aktiven Gerechtigkeit, durch die Gott gerecht ist und die Sünder und die Ungerechten straft. Ich aber, der ich, obgleich ich als untadeliger Mönch lebte, mich vor Gott als Sünder mit unruhigstem Gewissen fühlte und nicht vertrauen konnte, daß ich durch meine Genugtuung versöhnt sei, liebte nicht, nein ich haßte den gerechten und die Sünder strafenden Gott. Im geheimen war ich - wenn auch auch nicht in Verfluchung, so doch in gewaltigem Murren - aufgebracht gegen Gott, indem ich sagte: Gleichsam als ob es wahrlich nicht genug sei, daß die armen Sünder und die durch die Erbsünde ewig verlorenen durch jede Art von Unheil durch das Gesetz des Dekaloges bedroht sind, wenn nicht Gott durch das Evangelium Leid zum Leid hinzufügte, und auch durch das Evangelium uns Gerechtigkeit und seinen Zorn androhte! Ich raste so mit grimmigem und verwirrtem Gewissen, bedrängte aber ungestüm an dieser Stelle Paulus, brennend dürstend, um zu wissen, was der hl. Paulus wollte. Tag und Nacht dachte ich
unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte und ich
auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: Die Gerechtigkeit
Gottes wird in ihm offenbar, wie geschrieben steht: 'Der Gerechte lebt
aus Glauben'. Da fing ich an, die Gerechtigkeit
Gottes als
die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes
Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben, und begriff, daß
dies der Sinn sei: Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbar,
und zwar die passive, durch die uns der barmherzige Gott durch den Glauben
rechtfertigt, wie geschrieben steht: 'Der Gerechte lebt aus Glauben'. Da
fühlte ich, daß ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten
Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Da erschien mir durchgehend
ein anderes Gesicht der ganzen Schrift. Ich durchlief danach die Schrift,
soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch in anderen Ausdrücken
einen ähnlichen Sinn: Werk Gottes, d.h. durch das Gott in uns wirkt;
Kraft Gottes, durch die er uns kräftig macht (virtus
Dei,
qua nos potentes facit); Weisheit
Gottes, durch die er uns weise macht; Stärke Gottes; Rettung Gottes
(salus Dei); Herrlichkeit Gottes.
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Luther, Brief
an Georg Spenlein vom 8. April 1516.
Außerdem möchte
ich gern wissen, wie es um Deine Seele steht, ob sie denn nicht endlich,
ihrer eigenen Gerechtigkeit überdrüssig, lernt, in Christi
Gerechtigkeit aufzuatmen und auf sie zu vertrauen. Denn heutzutage
brennt die Versuchung der Vermessenheit in vielen Menchen und in denen
besonders, die mit allen Kräften gerecht und gut sein wollen. Sie
kennen die Gerechtigkeit Gottes, die uns in Christus so überreichlich
und umsonst geschenkt ist, nicht und trachten, aus sich selber so lange
Gutes zu tun, bis sie die Zuversicht haben, vor Gott bestehen zu können,
gleichsam bekränzt mit ihren Tugenden und Verdiensten, was doch unmöglich
sein kann. Du lebtest hier bei uns auch in dieser Meinung, vielmehr, diesem
Irrtum;
und auch ich bin darin gewesen, ja, noch jetzt kämpfe ich gegen diesen
Wahn und habe noch nicht ausgekämpft. Darum, mein heber Bruder, lerne
Christus, und zwar den gekreuzigten; lerne ihm singen und in der Verzweiflung
an Dir selbst zu ihm zu sagen: 'Du, Herr Jesus, bist
meine Gerechtigkeit, ich aber bin Deine Sünde. Du hast auf
Dich genommen, was mein ist, und mir geschenkt, was Dein ist. Du hast auf
Dich genommen, was Du nicht warst und mir geschenkt, was ich nicht war.
Sei auf der Hut, daß Du nicht eines Tages zu solcher Reinheit strebst,
daß Du Dir gar nicht als Sünder vorkommen, ja gar keiner mehr
sein willst. Christus aber wohnt nur in den Sündern. Darum ist er
doch vom Himmel herabgestiegen, wo er in den Gerechten wohnte, damit er
auch in den Sündern wohne. Dieser seiner Liebe sinne immer wieder
nach, und Du wirst seinen allersüßesten Trost erfahren. Denn
wenn wir durch unser eigenes Sorgen und Grämen zur Ruhe des Gewissens
gelangen müßten - wozu wäre er dann gestorben? Darum wirst
Du nur in ihm durch getroste Verzweiflung an Dir und Deinen Werken Frieden
finden und dazu von ihm selber lernen, daß er, wie er Dich angenommen
und Deine Sünden zu den seinen gemacht hat, so auch seine Gerechtigkeit
zu der Deinen gemacht hat.
Luther, Vorlesung
über den Römerbrief
zu Rm 1,17: Iustitia Dei
revelatur
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