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Stephan Otto Horn SDS:
Teil B: Die Kirche
II. Ökumenische Dimensionen
Die ökumenisch bedeutsamen Einsichten und Orientierungen Joseph Ratzingers fügen sich ein in sein theologisches Gesamtwerk, das von Anfang an eine ökumenische Prägung besitzt. Aber in der Mitte der 70er Jahre und somit gegen Ende seiner Tätigkeit als Professor gab er Anstöße, die sogleich ein außerordentliches Echo fanden, vielleicht aber erst heute ihre volle Fruchtbarkeit entfalten. Dies gilt besonders für einen 1976 in Graz gehaltenen Vortrag über »Prognosen für die Zukunft des Ökumenismus« (Text B5), der bereits zeigt, was für ihn als Ökumeniker charakteristisch ist: die Ausrichtung gleichermaßen auf die Orthodoxie wie auf die Reformation in der Gestalt des Luthertums und die Fähigkeit, die Wurzeln offenzulegen und von ihnen her Wege zu finden, die einen Heilungsprozeß ermöglichen. Seitdem hat Ratzinger in einer ganzen Reihe von Stellungnahmen seine Ansätze vertieft und präzisiert.
Im Grazer Vortrag vertritt er die These, Rom müsse »vom Osten nicht mehr an Primatslehre fordern, als auch im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt wurde« (1). Dieser theologische Vorstoß gründet in der Überzeugung Ratzingers, daß sich bereits im ersten Jahrtausend im Westen und im Osten, und zwar schon sehr früh, ein gemeinsamer Wurzelgrund kirchlicher Einheit und auch der Anerkennung der petrinischen Stellung der Kirche von Rom zeigt. (2) Später sieht er sich genötigt, gegen eine Deutung seiner These Stellung zu nehmen, die aus ihr etwas macht, das etwas wesentlich anderes ist, als er gewollt hat: eine Konzeption, in der das Erste Vatikanische Konzil als Ergebnis einer Sonderentwicklung der lateinischen Kirche erscheint, nicht mehr als Ausdruck des Glaubens der universalen Kirche. Eine solche Konzeption müßte aber bedeuten, daß die Kirche des zweiten Jahrtausends die Möglichkeit verloren hätte, den Glauben angesichts neuer Herausforderungen in neuer Weise zur Geltung zu bringen. Eine gewisse partikuläre Prägung kann nicht vom Eigentlichen der konziliaren Aussagen, wohl aber von der Sprachgestalt und Denkform behauptet werden. Die Aussagen des Vaticanum I fallen überdies nicht einfach zusammen mit der konkreten Gestalt, in der der Primat in der westlichen Kirche des 19. und 20. Jahrhunderts vollzogen wurde.
Im Blick auf das Gespräch mit der Reformation und den »von Luther bestimmten Kirchen« markiert der Beitrag Ratzingers - der im gleichen Vortrag schon grundgelegt ist - eine entscheidende Weichenstellung, ohne die die erstaunlichen Annäherungen und Konvergenzen im gegenwärtigen katholisch-lutherischen Dialog nicht möglich wären. (3) Er sieht die Confessio Augustana als Suche nach einer evangelischen Katholizität und bejaht deshalb ausdrücklich die Bemühungen, eine »katholische Anerkennung der Confessio Augustana, oder richtiger: eine Anerkennung der CA als katholisch zu erreichen und damit die Katholizität der Kirchen Augsburgerischen Bekenntnisses festzustellen« mit der Konsequenz, daß damit »eine eigene Form der Verwirklichung des gemeinsamen Glaubens mit der ihr zukommenden Eigenständigkeit« von der katholischen Kirche anerkannt wäre. Das »bedeutet, daß der Katholik nicht auf die Auflösung der Bekenntnisse und auf die Zersetzung des Kirchlichen im evangelischen Raum setzt, sondern ganz umgekehrt auf die Stärkung des Bekenntnisses und der ekklesialen Wirklichkeit hofft«. In späteren Veröffentlichungen hat Ratzinger seine Auffassung erläutert und differenziert. Vor allem weist er darauf hin, daß eine solche Anerkennung von seiten der katholischen Kirche eine auch heute noch geltende Anerkennung von lutherischer Seite zur Voraussetzung haben müßte. Aber noch grundlegender verbindet sich damit die Frage, ob Bekenntnis mehr ist als Theologie: Wäre damit zugleich anerkannt, daß die Kirche als Kirche lehren kann? Ratzinger sieht das Neue in der Rechtfertigungslehre der Confessio Augustana, das zugleich die gesamte Theologie von ihrer Mitte her revolutioniert, darin, daß die Frage der Rechtfertigung des Sünders von der Seinsebene auf die Ebene der Erfahrung gehoben wird. Hier stellt sich die Frage: Wird es möglich sein, diese Ausrichtung auf erfahrbare Gewißheit des eigenen Heils einzuordnen in die Objektivität des Glaubens der ganzen Kirche? Läßt sich auch Luther in eine solche Deutung einfügen? Gerade an dieser Stelle wird besonders klar, daß ein solcher auf Anerkennung ausgerichteter Dialog (4) nicht so sehr eine historische Klärung bedeutet, als vielmehr einen neuen geschichtlichen Schritt - eine geistliche Entscheidung, die einen inneren Weg voraussetzt. Er beinhaltet nicht zuletzt die Bereitschaft, bewußt in die ekklesiale Grundform einzutreten, wie sie schon in der frühen Kirche Gestalt angenommen hat.
So sehr diese Konzeption in der Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils liegt, so schwer mag es manchen fallen, Ratzinger hierin zu folgen. Könnte nicht an die Stelle eines so anspruchsvollen und schwer absehbaren Weges die gegenseitige Anerkennung auf der Basis des ökumenisch bereits Erreichten treten und so schon jetzt eine sichtbare Einheit geschaffen werden? (5) Dem hält er vor allem entgegen, daß die grundlegendsten Bedingungen für die Einheit der Kirche - das Glaubensbekenntnis (und so zugleich das altkirchliche Dogma) sowie der Schriftkanon - in ihrer Entstehung gebunden waren an das Ineinander von Glaubenstradition und apostolischer Nachfolge in der frühen Kirche und daß deshalb die Einheit der Schrift und des Glaubens heute endgültig zerbrechen müßte, wenn diese ekklesiologische Basis aufgegeben wäre.
Angesichts der Gefahr der Resignation und eines ökumenischen Stillstands ist es ihm wichtig, Zielvorgaben für den Weg der Annäherung und Einung zu geben. Sie sollen - als »Zwischenziele« - einerseits helfen, das jetzt schon Mögliche in einer reicheren und vertiefteren Weise zu vollziehen, sollen aber andrerseits Mut geben, auf die volle Einheit in dem einen Glauben zuzugehen. Dem »Konfessionalismus der Trennung« will Ratzinger »eine Hermeneutik der Einung entgegenstellen, die das Bekenntnis auf das Einende hin liest«. Das besagt, auf der Suche nach Einheit »sich selbst auf sie hin fortwährend reinigen und vertiefen« zu lassen, und damit auch dem anderen zu helfen, »in einem gleichen Weg der Reinigung und Vertiefung die gemeinsame Mitte zu erkennen und sich in ihr zu finden«. Die »Hermeneutik der Einheit« setzt die Bereitschaft voraus, das Gift der Feindseligkeit aus dem Umgang miteinander zu entfernen, aber auch den anderen nicht nötigen zu wollen. Sie zielt darauf, sich von der Verschiedenheit des anderen bereichern zu lassen und die Wahrheit in ihrer Fülle und Ganzheit zu suchen. Im Zusammenhang des anglikanisch-katholischen Dialogs hebt Ratzinger dabei die Hinwendung zur Kirche der Väter hervor und nennt als Beispiel die Traditionsautorität der eucharistischen Liturgie der Alten Kirche. (6) Vor allem gilt: »Solche Hermeneutik der Einheit wird darin bestehen, die jeweils einzelnen Aussagen im Kontext der ganzen Tradition und eines vertieften Begreifens der Bibel zu lesen. Sie wird die Frage einschließen, inwieweit Entscheidungen aus der Zeit der Trennung in ihrer Sprachgestalt und in ihrer Denkform von einer gewissen Partikularität gezeichnet sind, die überschreitbar ist, ohne das Eigentliche des Gesagten zu zerstören.« (7)
Zu den Texten
Der Text B5 aus dem Jahr 1976 ist mehrfach erschienen, zunächst in: Ökumenisches Forum, a. a. O., und in: Bausteine für die Einheit der Christen 17 (1977), S. 6-14; dann unter dem Titel »Die ökumenische Situation - Orthodoxie, Katholizismus und Reformation« (8) mit der Anmerkung: »Dieser 1976 in Graz gehaltene Vortrag wird hier bewußt unverändert nachgedruckt, da er nun einmal gerade in dieser Form Bedeutung für das Gespräch um die ‚Anerkennung' der Confessio Augustana gewonnen hat.« Erläuterungen und Ergänzungen hat Ratzinger später mehrfach hinzugefügt, so (im Blick auf die Bedingungen für eine Kommuniongemeinschaft mit den Orthodoxen) in »Probleme und Hoffnungen des anglikanisch-katholischen Dialogs«, a. a. O.; ferner (im Blick auf die Confessio Augustana) in »Klarstellungen zur Frage der ‚Anerkennung' der Confessio Augustana durch die katholische Kirche«, a. a. O., sowie in »Luther und die Einheit der Kirchen« mit »Nachwort«, a. a. O.
Der zweite Text B6 - wir bieten nur einen knappen Auszug - aus dem Jahr 1974 steht dem ersten nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich nahe. Er erschien ebenfalls mehrfach - zunächst unter dem Titel »Das Ende der Bannflüche von 1054« (9), später unter dem Titel »Rom und die Kirchen des Ostens nach der Aufhebung der Exkommunikationen von 1054« (10). Er bietet eine Deutung des Vorgangs entlang dem »Tomos Agapis« (»Buch der Liebe«), hat aber zugleich eine allgemeine Bedeutung im Zusammenhang dessen, was Ratzinger mit dem Begriff »Hermeneutik der Einheit« bezeichnet hat.
Die Texte B7 und B8 sind der neueren Veröffentlichung »Zur Gemeinschaft gerufen« entnommen. (11) Sie bieten nicht bloß - im Kontext breiterer biblischer und patristischer Erörterungen - eine Skizze zur Nachfolge-Konzeption der frühesten Ekklesiologie, sondern zugleich den Entwurf eines Zueinanders von Gesamtkirche und Teilkirche in der Zukunft, der auch ökumenisch sehr bedeutsam ist.
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1.
Die wichtigsten Texte Ratzingers, die sich explizit mit Fragen der
Ökumene befassen, sind gesammelt in der Theologischen
Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München
1982
(2. Teil: Die Formalprinzipien des Christentums im
ökumenischen Disput, S. 201-327) und im Werk Kirche,
Ökumene und Politik. Neue Versuche zur Ekklesiologie,
Einsiedeln
1987
(II. Teil: Ökumenische Probleme, S. 67-134). Im
erstgenannten
Werk ist vor allem die »Kernfrage im
katholisch-reformatorischen
Disput: Überlieferung und Successio apostolica«
behandelt.
Zur Frage des Papsttums ist wichtig die Studie »Der Primat
des
Papstes
und die Einheit des Gottesvolkes« (Kirche, Ökumene
und
Politik, S. 35-48). Zur heutigen Lage und ihren Aufgaben hat
Ratzinger
mehrfach Stellung genommen, so in »Ökumene am
Ort«
(Theologische Prinzipienlehre, S. 314-327), »Zum
Fortgang
der Ökumene.
Ein Brief an die Theologische Quartalschrift
Tübingen«
(Kirche, Ökumene und Politik, S. 128-134) sowie
»Zur
Lage der Ökumene«,
in: Perspectives actuelles sur l'oecuménisme,
hg. v. J.-L.
Leuba, Louvain - la Neuve 1995, S. 231-244. Im Folgenden
beziehen
sich
die Zitate, wenn nicht anders angegeben, auf den Artikel
J. Ratzinger, Prognosen für die Zukunft des
Ökumenismus,
in:
Ökumenisches Forum. Grazer Hefte für konkrete
Ökumene 1
(1977), S. 31-41 (s. u. Text B5). 2.
Als weitere Voraussetzung seines »anfänglichen
Denkversuchs« nennt Ratzinger im Beitrag Probleme und
Hoffnungen
des
anglikanisch-katholischen Dialogs (in: Kirche, Ökumene und
Politik, a. a. O., S. 67-86) die Auffassung,
»daß die Kirchen des Ostens
in der Traditionsgestalt des ersten Jahrtausends verblieben sind, die
als solche legitim ist und rechtverstanden keinen Widerspruch zu
den weitergehenden Entwicklungen enthält, die ja nur
entfalten,
was auch in der Zeit der ungeteilten Kirche schon angelegt
war«
(S. 81 f.). 3.
Um dies zu sehen, vergegenwärtige man sich nur, daß
das
Grundbekenntnis lutherischer Kirchen, das Augsburgerische Bekenntnis
von 1530, von Johannes Cochläus als
Täuschungsmanöver
der »Hyäne Melanchthon und noch von Joseph Lortz als
Einbruch des
Bagatellisierens und Relativierens in das lutherische
Christentum« (V. Pfnür, Einig in der
Rechtfertigungslehre? Wiesbaden 1970,
S. 286) deklariert wurde (vgl. J. Lortz, Die
Reformation in
Deutschland, Bd 2, Freiburg 1940, S. 53), daß von
Lortz zwar
Luther als
abgründig-tiefe religiöse Persönlichkeit,
nicht aber die
Artikulation lutherischen Kirchenwesens auch positiv gewertet wurde und
daß
Rahner noch 1961 im LThK-Artikel
»Kirchengliedschaft« es
offen ließ, ob man im Blick auf die getauften Nichtkatholiken
von
»Kirchengliedschaft im Sinn kirchlich-terminologischer
Festlegung« sprechen kann. 4.
In dem Artikel Klarstellungen zur Frage einer
»Anerkennung«
der Confessio Augustana durch die katholische Kirche (in:
Theologische Prinzipienlehre, a. a. O.,
S. 230-240)
betont er, er bejahe nach wie vor seine im Grazer Vortrag eingenommene
Position
(S. 231), zeigt aber Reserven gegenüber dem Begriff
»Anerkennung«: »Da aber der Begriff
‚Anerkennung' fast notwendig falsche
Vorstellungen weckt, sollte er meines Erachtens abgelöst
werden;
da überdies die CA nicht isoliert betrachtet werden kann,
sollte
man
etwa von einem Dialog über die theologische und kirchliche
Struktur der evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften und deren
Vereinbarkeit mit der Lehre der katholischen Kirche sprechen«
(S. 240). 5.
Die Kritik von Ratzinger an den Thesen von H. Fries und
K. Rahner (Einigung der Kirchen - reale Möglichkeit,
Freiburg
1983)
im Interview Luther und die Einheit der Kirchen. Ein Gespräch
mit
der Internationalen katholischen Zeitschrift Communio (in:
Kirche, Ökumene und Politik, a. a. O.,
S. 97-115)
ist - angesichts kritischer Gegenvorstellungen - präzisiert in
einem Nachwort
(1986), ebd., S. 117-127. 6.
»Die Traditionsautorität dieses eucharistischen
Typus ist
nicht geringer als die Traditionsautorität der Konzilien und
ihrer
Bekenntnisse, auch wenn sie sich anders - nicht durch konziliaren
Beschluß, sondern durch ständigen lebendigen Vollzug
-
geäußert
hat.« (Probleme und Hoffnungen des anglikanisch-katholischen
Dialogs, a. a. O., S. 83). 7. Ebd.,
S. 82. 8.
J. Ratzinger, Die ökumenische Situation - Orthodoxie,
Katholizismus und Reformation, in: Theologische Prinzipienlehre,
a. a. O.,
S. 203-214. 9.
J. Ratzinger, Das Ende der Bannflüche von 1054. Folgen
für
Rom und die Ostkirchen, in: Intern. kath. Zeitschrift Communio 3
(1974), S. 289-303. 10. J.
Ratzinger, Rom und die Kirchen des Ostens nach der Aufhebung der
Exkommunikationen von 1054, in: Theologische
Prinzipienlehre, a. a. O., S. 214-230. 11. B7: J. Ratzinger,
Gesamtkirche und Teilkirche. Der Auftrag des Bischofs, in: ders., Zur
Gemeinschaft gerufen. Kirche heute
verstehen, Freiburg, Basel, Wien 1991, S. 70-97. B8: Primat
Petri und Einheit der Kirche, in: ebd., S. 43-69.