Stiftung  Ekklesiologie: Lumen gentium Theologie im Geiste von Papst Benedikt Europa - Geistige Grundlagen Schülerkreis.: Publikationen Internetlinks

Weggemeinschaft des Glaubens

Vom Wiederauffinden der Mitte

Vincent Twomey:
Teil C: Zur Theologie des Politischen

Einführung

Joseph Ratzingers Ausführungen zu Fragen der Beziehung Glaube - Politik nehmen in seinen Publikationen der letzten Jahre einen relativ breiten Raum ein, wenngleich die Thematik auch in früheren Schriften immer wieder eine zentrale Rolle spielte. Seiner kritischen Distanz zu einer in der Eschatologie angesiedelten »politischen Theologie«, die die christliche Hoffnung politisch deutet und unmittelbar in politisches Handeln umsetzen will, steht eine klare Option für die politische Relevanz des christlichen Glaubens gegenüber, die jedoch von anderer Art ist. Als programmatisch könnte hierfür ein Satz aus der 1977 erschienenen »Eschatologie« angesehen werden: »Die Frage einer christlich verantworteten Politik gehört nicht in die Eschatologie, sondern in die Moraltheologie, und auf diesem Weg hat ihr die Reich-Gottes-Botschaft Entscheidendes zu sagen.« (1) Der Grund für die Ablehnung einer direkten Theologisierung der Politik liegt für ihn einerseits in der Auffassung von Glauben und Ethos als in der Personalität des einzelnen verankerter Größen und anderseits in seiner Einsicht in die prinzipielle Fehlbarkeit und Strittigkeit des politischen Denkens und Handelns. Würden Glaube und Politik demnach in einen zu direkten Konnex gebracht, würde dadurch einerseits der Glaube und damit die christliche Hoffnung ungebührlich in diese Endlichkeit des Politischen hinein verwoben und dadurch depotenziert. Auf der anderen Seite würde dadurch nach seiner Auffassung auch die Politik verfälscht, weil die Strittigkeit des durch die politische Vernunft Erkannten durch den theologischen Imperativ übersprungen wäre und Politik dadurch eine »Weihe« erhalten würde, die ihr nicht zukommt. Sein Plädoyer für die Ansiedlung des Politischen im Bereich der christlichen Ethik möchte einerseits die Verankerung des Ethischen in der Freiheit der Person retten, anderseits dem Politischen die Rationalität zurückgeben, die aus christlicher Verantwortung immer wieder nach Modellen bestmöglicher Gestaltung der menschlichen Dinge (im Sinne der katholischen Soziallehre) Ausschau halten muß. (2)

1. Genese

Seine in jüngster Zeit erschienenen Schriften zur Politik bauen auf einem Fundament auf, das in Ratzingers früheste Beschäftigung mit der Theologie hineinreicht. Sein erstes Forschungsprojekt war der Ekklesiologie des heiligen Augustinus gewidmet (3), der bekanntlich auch den kulturellen und politischen Werdegang des Westens zutiefst beeinflußt hat, nicht zuletzt durch sein bahnbrechendes Werk de civitate Dei (»Bürgerschaft Gottes« nicht »Gottesstaat«). Die bisherigen Deutungen des Begriffes »Civitas Dei« - einerseits durch eine neuzeitlich idealistische, anderseits durch eine politische Auslegung - hat Ratzinger überwinden können. In de civitate Dei stehe man »vor einer neuen Synthese des grundlegenden patristischen Erbes mit seiner [Augustins] eigenen Ekklesiologie, seiner Gnadenlehre und seiner Eschatologie, wobei die Frage nach dem politischen Ethos des Christen eine Rolle spielt, aber nicht zu Ende geführt wird.« (4) Gerade diese letztgenannte Frage wird in Ratzingers theologischen Überlegungen immer wieder auftauchen.

Bei seinen Untersuchungen zur Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura (5) ist er den für das Politikverständnis der Moderne wohl maßgebenden Spekulationen des Abtes Joachim von Fiore begegnet. Für manche Politikwissenschaftler hat die Geschichtstheologie Joachims, mit der sich Bonaventura - nach Ratzingers Meinung nicht ganz überzeugend - auseinandergesetzt hat, eine Wende im abendländischen Geschichtsbild herbeigeführt, wonach fortan das Heil bzw. das Eschaton sich immanent im Verlauf der jetzt mit innerer Notwendigkeit fortschreitenden Geschichte ereignet und durch die Gestaltung dieser Welt mittels der Politik verwirklicht werden soll - einerseits in Richtung des marxistischen Paradieses der Arbeiter und anderseits in Richtung des liberal-kapitalistischen Paradieses der Konsumenten. Im Zuge dieser Entwicklung wird auch Moral zunehmend nicht mehr als im Sein verankert verstanden, sondern sie wird in die Zukunft hinein versetzt. Ratzingers frühe Auseinandersetzung mit den gnostisierenden Spekulationen von Joachim hat ihn wohl intellektuell darauf vorbereitet, später die Ideologien, die eine neue Welt der Zukunft allein durch Strukturänderungen schaffen wollen, geistesgeschichtlich einzuordnen und ihre Problematik systematisch zu durchdenken.

Aufbauend auf seinem Studium Augustins, streift Ratzinger in seiner Schrift »Die christliche Brüderlichkeit« (6) einige Themen, die damals besonders brisant waren und es geblieben sind, wie z. B. die Frage der universalen Gleichheit und der den Nationalismus überwindenden Sicht der Einheit der Menschen. Bei diesen Themen geht es um einen Teil des biblischen Erbes, der unsere Welt und Politik zutiefst geprägt hat. Als ein Musterbeispiel seiner theologischen Methodologie beleuchtet dieser Aufsatz das Geheimnis der Erlösung, die durch unsere Teilhabe an der Sohnschaft Christi die neue, alle menschlichen Grenzen übersteigende brüderliche Gemeinschaft (Kirche) hervorgebracht hat und so eine Vision gebar, die nicht ohne Auswirkungen auf das politische Leben bleiben konnte - Auswirkungen jedoch, die ständig kritisch geprüft werden müssen. Im Laufe dieser Untersuchung legt er auch die Wurzel der genuin christlichen Sicht der politischen Weltordnung frei.

In seiner 1962 auf der Salzburger Hochschulwoche gehaltenen Vorlesung (Die Einheit der Nationen: Eine Vision der Kirchenväter) (7) beleuchtet Ratzinger ausführlicher, wie die frühe Christenheit um ihre Ortsbestimmung in der politischen Welt gerungen hat. Das Ringen, das einerseits durch den biblischen Glauben, anderseits durch das Erbe der Antike und die Auseinandersetzung mit der Gnosis bestimmt wurde, versuchte er, exemplarisch an Hand von Origenes und Augustin darzustellen. (8)

Ratzingers Analysen der Debatten auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (vor allem über Schema 13 bzw. Gaudium et Spes) (9) zeigen sein wachsendes Bewußtwerden der Tragweite der theologischen Fragen, die das Konzil auch hinsichtlich der Beziehung der Kirche zur Welt und so des Glaubenden zur Politik auslöste. In seiner Einführung in das Christentum (10) finden wir u. a. bereits eine Analyse der damals erst aufkommenden »politischen Theologie« und der mit ihr verwandten »Theologie der Hoffnung«, die wohl den gedanklichen Weg zur Befreiungstheologie unmittelbar grundgelegt haben. Bedeutsam sind auch seine Überlegungen zum Geheimnis der Dreifaltigkeit, wo er (Erik Peterson folgend) die Aufmerksamkeit auf die politischen Auswirkungen der dogmatischen Kontroversen des 4. Jahrhunderts lenkte. Anzeichen Ratzingers späterer Analysen findet man schon in Glaube und Zukunft (11), Demokratie in der Kirche (12) und besonders in seiner Eschatologie (13).

Eine Würdigung von Ratzingers Theologie der Politik darf den Sitz im Leben nicht außer acht lassen. Unmittelbarer Hintergrund dieser geistigen Entwicklung war u. a. die geschichtliche Lage der Studentenunruhen in den 60er Jahren, die schließlich auch in den weltweiten Terrorismus einmündeten. Gerade auf dieses Phänomen nimmt er bei seinen Analysen der geistlichen und geistigen Hintergründe der heutigen Welt und der Politik Bezug. (14) Eine andere, nicht weniger bedeutsame Krise in Theologie und Kirche - und darüber hinaus in der Weltöffentlichkeit - hat jeden Theologen der 60er und 70er Jahre beschäftigt: jene Krise nämlich, die die vom Konzil erforderte Erneuerung der Moraltheologie auslöste und bald zu einer Krise der grundlegenden Prinzipien der Moral schlechthin wurde (Stichwort: »autonome Moral«). Diese veranlaßte Ratzinger (unter Mitwirkung von Heinz Schürmann und Hans Urs von Balthasar) eine kleine, aber wichtige Abhandlung zu veröffentlichen: Prinzipien christlicher Moral (15). Ratzinger setzt sich hier ausführlich mit diesen Fragen auseinander und erarbeitete so die Grundlagen, auf die er seine späteren Ausführungen zur Moral aufbaute. Thematisch geht es dabei hauptsächlich um das Verhältnis zwischen Glaube und Ethos und so zwischen Autorität und Moral, d. h. um das Wesen der Moral. (16)

Vom Lehrstuhl an der Universität auf die bischöfliche Kathedra versetzt, muß sich Ratzinger erneut den verschiedensten Fragen der Beziehung zwischen Kirche und Welt sowie aktuellen Fragen der Politik und Moral stellen, wobei die theologischen Analysen in den zahlreichen Predigten nunmehr stärker den Akzent der pastoralen Sorgen eines Hirten tragen. (17) Als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, wo er sich direkt u. a. mit der Theologie der Befreiung, der Fundamentalmoral und den neuesten Entwicklungen in der Bioethik auseinandersetzen mußte und wo ihm ein privilegierter Blick in die weltweite Catholica und die Weltpolitik gewährt wurde, führte er seine eigenen theologischen Reflexionen weiter, die in zahlreichen Aufsätzen ihren Niederschlag fanden. Hier findet man Ratzingers ausgereifte Theologie der Politik.

Seine Hauptwerke auf diesem Gebiet sind: Politik und Erlösung (18) sowie die Sammlungen von verschiedenen Beiträgen, die unter den folgenden Titeln veröffentlicht wurden: Kirche, Ökumene und Politik (19), Wendezeit für Europa? (a. a. O.) und Wahrheit, Werte, Macht (20). Trotz des Gelegenheitscharakters dieser Aufsätze (18 insgesamt) gewinnt der Leser eine durch das systematische Denken Ratzingers erhellte einheitliche, wenn auch höchst differenzierte Sicht der Welt von heute und der dahinterliegenden, perennierenden Fragen nach dem Wesen von Politik und Moral. Ratzinger bietet kein geschlossenes System - gerade das wäre nach seiner Analyse das Ende der Politik -, sondern will von der Mitte des Glaubens her nur Denkanstöße für den Bereich von Politik und Moral geben.

2. Methodologie

Da Politik die Frage »Wozu der Mensch?« nicht ausklammern kann und sie entweder implizit oder explizit mindestens voraussetzen muß, darf die Politik Theologie nicht außer acht lassen, wie auch umgekehrt. Da anderseits gerade der christliche Glaube zunächst die europäische Politik und dann in jüngerer Zeit darüber hinaus die Politik fast aller Nationen wesentlich mitgeprägt hat, hat der Theologe eine besondere Verantwortung der Politik gegenüber. Ratzingers Methodologie ist von dieser Verantwortung beseelt und von seiner Ekklesiologie und Eschatologie theologisch bestimmt. Ausgehend von einer fundierten Analyse der Gegenwart, versucht er gewöhnlich, zunächst den geistesgeschichtlichen Wurzeln der gegenwärtigen Hauptströmungen in der Politik auf die Spur zu kommen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft, schließlich für den Menschen insgesamt, zu eruieren. Der zweite Schritt bildet nicht selten eine kritische Sichtung der Kirchen- bzw. Theologiegeschichte, um schließlich Lösungen in der Gestalt von Thesen vorzuschlagen, die als These offen bleiben und so die weitere Diskussion anregen möchten. Hinter diesen Bemühungen tauchen die tieferen Fragen nach dem Humanum auf - und so einerseits nach dem Ort der Religion in der Politik, anderseits nach dem Wesen des menschlichen Handelns (Moral), d. h. nach dem Menschenbild als solchem. Diese letztgenannten Fragenkomplexe werden in seinen Aufsätzen über Moraltheologie weitergeführt, vor allem was das Wesen des Gewissens betrifft. Hinter all diesen aktuellen Fragen stehen Grundsatzfragen philosophischer und theologischer Art, wie z. B. nach dem Materialismus im Gegensatz zum Theismus, nach dem Vernunftbegriff, dem Wesen der Freiheit, letzten Endes nach dem Gottesbegriff und der Geschöpflichkeit des Menschen.

3. Zu den Texten

Keine Textauswahl zu diesem reichhaltigen und breit gefächerten Themenbereich kann den Ausführungen Ratzingers zur Politik auch nur annähernd gerecht werden. Abgesehen von den letztgenannten rein philosophischen und theologischen Grundfragen muß man hier u. a. auf seine scharfsinnigen Analysen der gegenwärtigen kulturellen und politischen Lage oder des Phänomens des »Fundamentalismus« verzichten. Ausgewählt wurden Texte, die je eine Einsicht in einige grundlegende Themen der Politik und Moral geben und zugleich die innere Kohärenz von Ratzingers Gedanken exemplifizieren.

Zum Hintergrund der folgenden Texte könnte man zusammenfassend etwa sagen, daß für sein Politikverständnis der Unterschied zwischen dem Bereich des Politischen und dem des Glaubens maßgebend ist, ein Unterschied, der im Herrenwort »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« (Mt 22,21), seinen Ursprung hat. Geschichtlich bedeutete diese Unterscheidung zunächst die Entsakralisierung des (römischen) Staates - dessen letztlich religiöse Verfassung seinen totalitären Anspruch begründete - und so die Öffnung der Politik ausschließlich auf den Bereich der praktischen Vernunft (Ethos) hin. Im Laufe der Zeit führte sie zur Trennung zwischen Staat und Kirche, die u. a. die geistesgeschichtliche Voraussetzung für die Entwicklung des neuzeitlichen Freiheitsbegriffs gewesen ist. Hinter dieser geschichtlichen Entwicklung steht das christliche Phänomen des Martyriums, das sowohl einen Primat des Gewissens im europäischen Kulturraum verankert als auch die Grenzen der politischen Macht und die Gründung aller Menschenrechte in der Glaubensfreiheit aufgezeigt hat.

a) Der erste der ausgewählten drei Aufsätze (Text C1: Christliche Orientierung in der pluralistischen Demokratie? Über die Unverzichtbarkeit des Christentums in der modernen Gesellschaft) ermöglicht dem Leser eine Einsicht in die Art und Weise, wie Ratzinger die moderne, pluralistische, heute wohl gefährdete Demokratie einschätzt. Im Anschluß an die Feststellung von E.-W. Böckenförde, daß es »Unverzichtbares« für die pluralistische Demokratie gibt, das nicht im politischen Bereich angesiedelt ist, stellt er die These auf, daß das gelebte Christentum unverzichtbar für die Demokratie sei, erstens damit jene Werte vorhanden bleiben, die die Demokratie zwar braucht, die sie aber nicht selbst produzieren kann, und zweitens damit Politik vernünftig bleibt und nicht der in der heutigen westlichen Kultur bestehenden Neigung zu Ideologien verfällt.

Die moderne Demokratie ist nach Ratzingers Auffassung durch den aus dem »Ekel am Bestehenden« entstehenden, schwärmerischen Versuch, eine neue, perfekte Welt zu schaffen, bedroht. In der so »befreiten« Gesellschaft wird das Moralische, das immer gebrechlich ist, überflüssig, da Gerechtigkeit durch Änderung der Strukturen herbeigeführt werden soll. Dies alles ist die Konsequenz der Einseitigkeit des dahinterliegenden, neuzeitlichen Vernunftbegriffs, der sich auf das Empirische bzw. Quantitative reduziert hat mit der Folge, daß die klassische Moral als unvernünftig betrachtet bzw. durch die Abwägung von Vor- und Nachteilen ersetzt wird. Hinter all dem steht die Zerstörung der Transzendenz, die einerseits die Flucht in die Utopie (Himmel auf Erden) hervorruft und anderseits die Verengung der Vernunft besiegelt.

Eine selbstkritische Betrachtung des Christentums ergibt für Ratzinger, daß dieses als geschichtliches Phänomen selber nicht selten eine Bedrohung für die politische Gesellschaft dargestellt hat. Er nennt drei solcher Gefahren: die der christlichen Hoffnung eigene Versuchung zur Anarchie, die Relativierung des Ethos bzw. eine Unfähigkeit zum Kompromiß und schließlich »die Gefahr theokratischer Überdehnung«, die gerade aus dem Wahrheitsanspruch des Glaubens entstehen kann. Mit einem Wort, man muß zugeben, daß das Christentum als menschliche Größe auch dem Gesetz der Unvollkommenheit unterliegt, und gerade deshalb muß die Beziehung Christentum - Demokratie immer wieder neu gefunden werden.

Seine Analyse leitet Ratzinger zu der Kernfrage: »Wie kann Christentum, ohne politisch instrumentalisiert zu werden und ohne umgekehrt das Politische für sich zu vereinnahmen, zu einer positiven Kraft für dieses werden?« Die abwägende Antwort auf diese Frage bildet den Inhalt seiner These über die Unverzichtbarkeit des Christentums in der modernen Welt. Da erstens das Neue Testament zwar politisches Ethos, aber keine politische Theologie kennt, gilt es, »daß die Politik nicht der Bereich der Theologie, sondern des freilich zuletzt nur theologisch zu begründenden Ethos ist.« Zweitens erweckt der christliche Glaube das Gewissen und begründet das Ethos: »Die Vernunft braucht Offenbarung, um als Vernunft wirken zu können.« Den dritten Punkt nennt Ratzinger den neuralgischen Punkt: Wie kann der Staat den absoluten Öffentlichkeitsanspruch der Kirche anerkennen, ohne sich als pluralistischer Staat aufzuheben? Die nötigen Einschränkungen berücksichtigend, müsse der Staat u. a. »… lernen, daß es einen Bestand von Wahrheit gibt, der nicht dem Konsens unterworfen ist, sondern ihm vorausgeht und ihn ermöglicht.« Wenn aber das Christentum selbst nicht mehr von seinem Beitrag, den es zum Gelingen der Demokratie leisten kann, überzeugt ist, kann es auch keine öffentliche Anerkennung mehr erwarten.

b) Obwohl die sogenannte Theologie der Befreiung inzwischen etwas von ihrer unmittelbaren Aktualität verloren hat, bleibt die Auseinandersetzung Ratzingers (in Text C2) mit dem 1972 erschienenen, bahnbrechenden Buch von Gustavo Gutiérrez, Teología de la liberación von dauerhafter Bedeutung, da seine Analysen die Wurzel der Frage nach der Beziehung zwischen Politik und christlicher Erlösungslehre aufdecken, die wesentlich vom Verhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung bzw. von dem, was unter diesen Begriffen verstanden wird, bestimmt wird. (21)

Gutiérrez hat sein politisches Konzept im Anschluß an
Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung« bzw. seine Ontologie des »Noch-nicht-Seins« entworfen. Ratzinger untersucht im ersten, hier nicht abgedruckten Teil seines Aufsatzes dieses Konzept im Blick auf seine Konsistenz und Glaubwürdigkeit. Hier interessiert uns aber eher die theologische Konzeption von Gutiérrez. Diese ergibt sich nach Ratzinger aus der die nachkonziliare Theologie mit prägenden Infragestellung der sogenannten Dualismen in der Theologie (Natur und Übernatur, Welt und Kirche, irdischer Fortschritt und Reich Gottes), die bei Gutiérrez, radikalisiert nicht zuletzt durch seine philosophische Option, zu einem neuen Monismus der Geschichte als Trägerin des Heils führt, in dem der Mensch sich selbst in der Erschaffung der neuen Welt hervorbringt und schafft. Ratzingers sorgfältige Auseinandersetzung mit der logischen Struktur und dem Wahrheitsgehalt dieser theologischen Konzeption ermöglicht ihm, die Lateinamerika eigene Verschmelzung von Religion und Politik bzw. Glaube und Utopie in die Philosophie- und Theologiegeschichte wieder einzureihen, um schließlich die rechte Beziehung zwischen beiden neu zu entdecken. Politik solle nicht in die Metaphysik, sondern in die Ethik, d. h. in den Raum der menschlichen Vernunft und Freiheit eingeordnet werden, wobei Vernunft vernünftigen Glauben voraussetzt und Glaube das Gespräch mit der menschlichen Bildung in allen ihren Richtungen verlangt. Gerade in diesem Gespräch finden die katholische und evangelische Soziallehre ihren Ort und ihre Aufgabe.
(22)

c) Das Gewissen gehört zum Fundament der Moral und soll damit nach Ratzinger auch zum Fundament der Politik gehören. Die Überlegungen zum Gewissen bilden einen Leitfaden durch sein Gesamtwerk. (23)

Merkwürdigerweise hat sich ein verkrusteter, in der Spätscholastik entstandener Begriff vom Gewissem (bzw. vom irrigen Gewissen) mit der dem Grundgefühl der Moderne entsprechenden Subjektivität in Sachen Moral verschmolzen, so daß Gewissen nicht nur als Gegenpol zum Lehramt, sondern darüber hinaus, meist unbewußt, als Mittel zur Austilgung der Wahrheitsfrage schlechthin erscheint.

Die Bedeutung des dritten ausgewählten Aufsatzes (Text C3: Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen. Gewissen und Wahrheit) liegt darin, daß Ratzinger hier eine Schicht des Gewissens wiederentdeckt, die von Sokrates bis zur Hochscholastik maßgebend gewesen ist und die das Leben und Werk eines Thomas More und eines John Henry Newman zutiefst geprägt hat, die aber in der Neuzeit mehr und mehr übersehen wurde. Es geht nämlich um die sozusagen ontologische Ebene bzw. Dimension des Gewissen, die im Mittelalter synderesis genannt wurde (im Unterschied zu conscientia = Gewissensakt).

Ratzinger zieht diesem Begriff jedoch den platonischen Begriff »Anamnesis« vor, den er aber im Licht der Glaubenstradition abwandelt und klärt: Es gebe im Menschen eine Urerinnerung an das Wahre und das Gute, »eine Anamnese des Schöpfers, die mit dem Grund unserer Existenz identisch ist.« Sie aber braucht eine Hilfe von Außen, um zu sich zu kommen. Das Lehramt spielt dabei eine mäeutische Rolle. Auf diesem so verstandenen Gewissensbegriff »beruhen Möglichkeit und Recht der Mission.« Mit diesem Gewissensbegriff sind wir an der Quelle der Wahrheit angelangt, die zugleich persönlich und gemeinschaftsbildend ist und so die Freiheit - und Demokratie - ermöglicht.

---------------------------------------------------------------------------

1.J. Ratzinger, Eschatologie - Tod und ewiges Leben, Regensburg 1977, S. 59.

2. Vgl. J. Ratzinger, Kirche, Ökumene und Politik. Neue Versuche zur Ekklesiologie, Einsiedeln 1987, S. 240 f.; vgl. aber auch seine kritischen Bemerkungen, wie z. B.: ders., Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre, in: Kl. v. Bismarck/W. Dirks (Hg.), Christlicher Glaube und Ideologie, Berlin, Mainz 1964, S. 24-30.

3. J. Ratzinger, Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche (MThS.S 7), München 1954, Neudruck St. Ottilien 1992; vgl. auch: ders., Herkunft und Sinn der Civitas-Lehre Augustins, in: Augustinus Magister II, Paris 1954, S. 965-979.

4 Vorwort von 1992 zur Neuauflage der Diss., a. a. O., S. XVI; s. o. Text A1.

5. J. Ratzinger, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, München 1959, Neudruck St. Ottilien 1992.

6. J. Ratzinger, Die christliche Brüderlichkeit, München 1960; vgl. ders., Fraternité, in: M. Viller (Hg.), Dictionaire de spiritualité, ascétique et mystique, doctrine et, histoire, Bd V, Paris 1964, S. 1141-1167; ders., Die anthropologischen Grundlagen der Brüderliebe, in: Caritasdienst 23 (1970), S. 24-49, nachgedruckt in: ders., Dogma und Verkündigung, München 1973, S. 239-253.

7. J. Ratzinger, Die Einheit der Nationen: Eine Vision der Kirchenväter, Salzburg, München 1971; Teile davon wurden früher im Studium Generale 14 (1961), S. 664-682 und in: Der katholische Gedanke 19 (1963), S. 1-9 veröffentlicht.

8. Vgl. vor allem ebd., S. 69-106: Augustins Auseinandersetzung mit der politischen Theologie Roms.

9. Vgl. J. Ratzinger, Die letzte Sitzungsperiode des Konzils, Köln 1966; dazu: A. Nichols, The Theology of Joseph Ratzinger. An Introductory Study, Edinburgh 1988, S. 99-103.

10. J. Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis, München 1968.

11. J. Ratzinger, Glaube und Zukunft (KSTh), München 1970, bes. S. 65-106.

12. J. Ratzinger/H. Maier, Demokratie in der Kirche. Möglichkeiten, Grenzen, Gefahren, Limburg 1970, S. 9-46.

13. Eschatologie, a. a. O., bes. S. 1-64.

14.Vgl. z. B. J. Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln 1991, S. 15-17, 31-34; ders., Über die Wurzeln des Terrors in Deutschland, in: D. Froitzheim/A. Wienand (Hg.), Almanach für das Erzbistum Köln (Zweite Folge), Köln 1982, S. 99-103.

15. J. Ratzinger/H. U. v. Balthasar/H. Schürmann, Prinzipien christlicher Moral (Kriterien 37), Einsiedeln 1975; vgl. auch seinen Kommentar zu Art. 11-22 der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, in: LThK, Erg.Bd 3, Freiburg 1968, S. 313-354, bes. S. 328-333.

16. Die moderne, eher relativistische Auffassung von Moral, die in der pluralistischen Demokratie eine große Resonanz findet, auch wenn dieser Relativismus Demokratie zu vernichten droht (vgl. u. a. F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York, London 1992, S. 332), hat die heutige Moraltheologie nicht unbeeinflußt gelassen, die folglich die kirchliche Lehrautorität in Sachen Moral mehr und mehr kritisch betrachtet. In Ratzingers Beitrag Kirchliches Lehramt - Glaube - Moral (Prinzipien christlicher Moral, a. a. O., S. 41-66) geht es u. a. um die Gründe für den heutigen Überzeugungsverlust im Bereich der christlichen Moral, wenn einerseits Orthodoxie durch Orthopraxie ersetzt und anderseits eine spezifisch christliche Moral geleugnet wird mit dem Ergebnis, daß die Morallehre von der Kompetenz des Lehramtes ausgeklammert wird. Hinter der Frage nach der Kompetenz des kirchlichen Lehramtes in der Moral steht nicht nur die Frage nach der neutestamentlichen Grundlage jenes Lehramtes, sondern auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft bzw. nach dem Wesen des Glaubens und der Vernunft. Beide Seiten des Fragenkomplexes bedingen sich, wie Ratzinger zeigt, gegenseitig. »Sowohl die Flucht in die pure Orthopraxie wie auch die Abdrängung der inhaltlichen Moral aus dem Bereich des Glaubens … bedeutet in der Sache … eine Verketzerung der Vernunft.« Demgegenüber ist im Anschluß an Kap. 1 und 2 des Römerbriefs die Kirche überzeugt, »daß die Vernunft wahrheitsfähig ist und daß der Glaube daher sich nicht außerhalb der Überlieferung der Vernunft erbauen muß, sondern seine Sprache in Kommunikation mit der Vernunft der Völker, in Aufnahme und Widerspruch findet.« (S. 64 f.) Daraus ergibt sich die spezifische Aufgabe des Lehramtes in Sachen Moral.

17. Vgl. z. B. J. Ratzinger, Christlicher Glaube und Europa. 12 Predigten, hg. v. Pressereferat der Erzdiözese München-Freising, München 1981; ders., Zeitfragen und christlicher Glaube. Acht Predigten aus den Münchener Jahren, Würzburg 1982.

18. J. Ratzinger, Politik und Erlösung. Zum Verhältnis von Glaube, Rationalität und Irrationalem in der sogenannten Theologie der Befreiung, Opladen 1986 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften: Geisteswissenschaften; Vorträge G 279); s. u. Text C2.

19. Kirche, Ökumene, Politik, a. a. O., vor allem der III. Teil: Kirche und Politik, S. 137-243.

20. J. Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht. Prüfstein der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg, Basel, Wien 1993.

21. Politik und Erlösung, a. a. O. Seiner Meinung nach ist der Ausgangspunkt der Befreiungstheologie durchaus berechtigt: »Wenn aber Erlösung zumindest auch an die Politik geknüpft und Theologie Erlösungslehre ist, dann muß Theologie, um ihrem Gegenstand zu genügen, politisch werden« (S. 7). In Frage gestellt wird deshalb nicht der Ausgangspunkt, der sowohl berechtigt als auch notwendig ist, sondern der Lösungsvorschlag, der ein gewisses politisches Konzept und eine bestimmte theologische Konzeption beinhaltet.

22. Nach M. Sievernich (Von der Utopie zur Ethik. Zur Theologie Gustavo Gutiérrez', in: ThPh 71 (1996), S. 33-46) hat Gutiérrez die Kritik Ratzingers positiv rezipiert.

23. Vgl. V. Twomey, La coscienza e l'uomo, in: J. Clemens/A. Tarzia, Alla scuola della verità, Mailand 1997.