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Weggemeinschaft des Glaubens

Vom Wiederauffinden der Mitte

Siegfried Wiedenhofer:
Teil B: Die Kirche
I. Theologische Grundlegung


Einführung

Obwohl das Verständnis der Kirche zu den durchgehenden Arbeitsschwerpunkten in der theologischen Arbeit von Joseph Ratzinger gehört und inzwischen von ihm eine Vielzahl von Einzelbeiträgen dazu erschienen sind, haben andere Verpflichtungen den langjährigen Plan, eine eigene Ekklesiologie vorzulegen, bisher verhindert.

Die im folgenden abgedruckten wenigen Textstücke aus dem großen Fundus ekklesiologischer Beiträge und Überlegungen sollen wenigstens zwei große Schwerpunkte des ekklesiologischen Werkes deutlich machen: zum einen die Konzentration auf Ursprung und Wesen der Kirche - in der Absicht der Erneuerung eines in verschiedener Hinsicht und in verschiedener Weise degenerierten Kirchenverständnisses, und zum anderen die Klärung dessen, was Kirchlichkeit des Glaubens, Identität des Glaubens, kirchliche Hermeneutik, kirchliche Auslegung der christlichen Glaubensüberlieferung bedeutet - gedacht als Orientierung in den innerkirchlichen, interkonfessionellen und geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart.

Der erste Text, der aus jüngerer Zeit stammt, der aber in der Sache die früheren Erkenntnisse eines ständigen und intensiven Bibelstudiums wiederaufnimmt, belegt sehr schön, wie stark diese Ekklesiologie sich aus dem Gespräch mit der Heiligen Schrift und mit der Exegese formiert. Der Rückgriff auf den biblischen Ursprung, der schon mit der Dissertation beginnt, weil das Verständnis der augustinischen Volk-Gottes-Vorstellung den Gang in seine patristische und biblische Vorgeschichte notwendig gemacht hatte, und der sich in der Folgezeit in einer wachsenden Auseinandersetzung mit der modernen Exegese fortsetzt, gehört auch zu den sachlichen Konstitutiva eines durch und durch erneuerungsbereiten Kirchenverständnisses. Dieses Standnehmen im Ursprung, diese wechselseitige Bestimmung von historisch-exegetischer Arbeit und systematisch-dogmatischer Reflexion, ermöglichen dann auch einen kritischen und historischen Blick auf die gegenwärtige und jüngere Auslegungsgeschichte (wovon besonders die methodischen Vorüberlegungen zeugen) und einen deutlichen Standpunkt gegenüber jenen ekklesiologischen Auslegungstraditionen, die Ursprung und Wesen der Kirche nicht mehr sachgemäß auszulegen vermögen. Das sind, wie die abgedruckten Texte zeigen, auf der einen Seite die antireformatorisch und antimodernistisch verengte apologetische katholische Ekklesiologie der Neuzeit, zum anderen und bald in den Vordergrund tretend die bürgerlich-liberale und die marxistische Auslegungslinie (die beide sehr nahe zusammengesehen werden). Gegen deren Verständnis der Heiligen Schrift, der Geschichte Jesu und der Ursprünge der Kirche werden sowohl historisch-exegetische Gründe (die historische Entwicklung der Kirche im Ursprung, das Handeln Jesu, den Sinn des Wortes »Kirche« - ecclesia, die paulinische Bedeutung des Wortes vom »Leib Christi« betreffend usw.) als auch systematisch-theologische Gründe (von einer Bestimmung des Wesens der Kirche ausgehend, d. h. den Zusammenhang des Kirchenverständnisses mit der trinitarischen und sakramentalen Grundstruktur des christlichen Gottesglaubens thematisierend) angeführt.

Die Texte B1, B2 und B3 belegen im übrigen recht gut auch die Kontinuität im ekklesiologischen Denken Ratzingers. Liest man, was in Text B1 über die Kirche als Leib Christi gesagt ist, zusammen mit den Ausführungen über Kirche als Volk Gottes in Text B2 und über Kirche als Tempel des Hl. Geistes in Text B3, so zeigt sich nicht nur, wie sich diese drei Grundbestimmungen von Kirche wechselseitig auslegen und wie sie ein konsequent trinitarisches und sakramentales Kirchenverständnis wechselweise artikulieren (Kirche als sakramentale Kommunikationsgemeinschaft in der Gemeinschaft mit dem dreieinen Gott), sondern im Grunde nur näher entfalten, was im Kirchenartikel in der zweiten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche 1961 bereits programmatisch ausgesprochen worden war.

Gewiß zeichnen sich in den ekklesiologischen Texten auch spezifische Voraussetzungen ab, die in dieser Ekklesiologie mit wirksam sind, aber es ist eine Ekklesiologie, die bei aller Bestimmtheit des Standortes und der Kritik nicht lamentiert, dekretiert oder blind verketzert, sondern historisch und systematisch argumentiert. Daran ist sie daher auch theologisch zu messen.

Was z. B. unten im Text B4 unter dem Titel »Kirchlichkeit des Glaubens und kirchliche Auslegung des Glaubens« abgedruckt wird, gehört m. E. nach wie vor zum Besten, was in der katholischen Theologie zur Logik und Hermeneutik der christlichen bzw. kirchlichen Glaubensüberlieferung gesagt worden ist, gerade auch unter dem Gesichtspunkt der getrennten Christenheit. Aber auch die Abschnitte über das Wesen der Kirche (Kirche als Gemeinschaft, d. h. als Ineinander von Volk Gottes, Leib Christi und Tempel des Hl. Geistes, und als Heilssakrament) zeigen, wie fruchtbar dieser Ansatz des Kirchenverständnisses in ökumenischer Hinsicht ist: In der Erneuerung vom Ursprung, vom Wesen und von der Ganzheit der Überlieferung her läßt sich die eigene katholische Identität des Glaubens sozusagen auf ihre eigentliche Weite und Tiefe hin ausweiten, die sie in neuer und überraschender Weise ökumenisch gesprächsfähig macht. Die abgedruckten Texte deuten mindestens an, daß in diese Ekklesiologie eine intensive Beschäftigung mit der reformatorischen Tradition (mindestens mit den Bekenntnisschriften) und mit der ostkirchlichen Tradition eingegangen ist. Und so ist es kein Wunder, wenn diese Ekklesiologie in ihrer Wesensbestimmung der Kirche sowohl ganz reformationsnahe formulieren kann (die eigentliche Kirche ist die Gemeinschaft der wahrhaft Glaubenden, d. h. die Gemeinschaft derer, die den Geist Christi haben - reformatorisch gesprochen: die Gemeinschaft der Gerechtfertigten), wie auch ganz ostkirchennahe sich ausdrücken kann (im Sinne einer pneumatologischen und eucharistischen Ekklesiologie), ohne sich damit aber von der konkreten katholischen Kontinuität des Kirchenverständnisses abzuschneiden. Was für die gesamte Theologie von Ratzinger gilt, gilt speziell auch für das Kirchenverständnis: Der Glaube ist ein Weg, der im Vertrauen auf die Verheißung getreulich weiterzugehen ist, der auch mit großer Verantwortung und Entschiedenheit die in die Irre führenden Abwege vermeiden muß, der aber in ständiger Bußbereitschaft und Vergebungshoffnung sich immer neu aufmachen muß. Es ist nicht zuletzt auch der spirituelle Charakter dieser Ekklesiologie, der jede Verabsolutierung und Positivierung der Kirche verbietet.

Gewiß, damit sind längst nicht alle Fragen im Zusammenhang mit dem Kirchenverständnis beantwortet oder beantwortbar. Mindestens müßte man hier noch die anderen Schwerpunkte der Theologie von Ratzinger berücksichtigen: vor allem die zentrale Rolle des Schöpfungsglaubens und die Bedeutung der Vollendungshoffnung, die beide einen universalen Horizont darstellen, ohne den jedes Kirchenverständnis zu einer Ideologie eines elitären Vereins zu degenerieren droht. In den abgedruckten Texten selbst ist diese Vermittlung zwischen der Partikularität der Erlösungsgeschichte und Kirchengeschichte und der Universalität der Herkunft (Schöpfung) und Zukunft (Vollendung) vor allem personal, spirituell, sakramental und pneumatologisch angezielt (als geistgewirkte Offenheit, Kommunikationsfähigkeit, als Für-Sein, Tragen und Getragenwerden, Zeugnis, Liebe usw.). Aber das hängt mindestens zum Teil auch mit der beschränkten Textauswahl zusammen. (1)

(Siegfried Wiedenhofer)

1.

110 Weitere wichtige ekklesiologische Texte von J. Ratzinger: Art. Kirche. III. Systematisch, in: LThK Bd 6, 21961, S. 173-183; Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie, Düsseldorf 21970; Demokratisierung der Kirche? in: J. Ratzinger/H. Maier, Demokratie in der Kirche. Möglichkeiten, Grenzen, Gefahren (Werdende Welt 16), Limburg 1970, S. 7-46; Kirche als Heilssakrament, in: J. Reikersdorfer (Hg.), Zeit des Geistes, Wien 1977, S. 59-70; Identifikation mit der Kirche, in: J. Ratzinger/K. Lehmann, Mit der Kirche leben, Freiburg, Basel, Wien 41978, S. 11-40; Kirche, Ökumene und Politik. Neue Versuche zur Ekklesiologie, Einsiedeln 1987; Zur Gemeinschaft gerufen. Kirche heute verstehen, Freiburg, Basel, Wien 1991.