Ausführliche Projektbeschreibung:
Im Juni 1934 beschlossen die katholischen Bischöfe Deutschlands wegen der erheblichen gesellschaftspolitischen Umwälzungen im nunmehr nationalsozialistisch regierten Reich, die Gründung des „Katholischen Seelsorgsdienst für die ‚Wandernde Kirche’“ in Berlin[1]. Es handelte es sich dabei um den Versuch, diejenigen Katholiken im Einflussbereich der katholischen Kirche zu halten, die aufgrund der damals neueingerichteten Pflichtdienste wie Reichsarbeitsdienst oder Landjahr, durch gezielte Arbeitskräftelenkung und Industriealisierung wie beispielhaft zum Aufbau der Industriesiedlungen im Großraum Braunschweig (Volkswagen- und Hermann-Göring-Werke) oder in Folge von Umsiedlungs- und Kriegswirren „entscheidende Jahre ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung fern von Elternhaus und Heimat in Arbeits- und Lebensgemeinschaften ... zubringen“[2] mussten. Das primäre Ziel des Seelsorgsdienstes war, diese von der Binnenwanderung betroffenen Katholiken, die sog. „Wandernde Kirche“[3], vor der „religiös gleichgültige[n]“ und „oftmals auch ... ablehnende[n], ja direkt christentums- u[nd] glaubensfeindliche[n] Umgebung“ und vor der „Gefährdung des Glaubens“[4] zu schützen.
Zu den bislang bekannten, jedoch keinesfalls im einzelnen dargestellten Aufgaben des Seelsorgsdienstes gehörten:
- Die gezielten Verhandlungen mit übergeordneten Reichsbehörden um die konkreten Möglichkeiten der Seelsorge.
- Die Koordination der speziell für die Wandernden freigestellten Priester und insbesondere der erstmals im großen Umfang eingesetzten alleinverantwortlichen Laienhelferinnen.
- Die seelisch-mentale Vor- und Nachbereitung der von der Binnenwanderung betroffenen Katholiken und Gemeinden auf die religiösen Gefahren in der Diaspora und auf das Leben in einer glaubensfeindlichen Umgebung überhaupt.
- Die möglichst genaue Erfassung der Wandernden Katholiken mit Hilfe eines neueingeführten Meldesystems, durch welches die betroffenen Personen und Pfarreien verpflichtet werden sollten, jeden Zu- und Wegzug umgehend anzuzeigen (vgl. Anlage).
- Die Gewährleistung eines zügigen Informationsaustausches unter den deutschen Bistümern über den Stand und die rechtlichen Möglichkeiten der Seelsorge[5].
Binnen weniger Monate entstand so 1934/35 auf kirchlicher Seite ein bis dahin einzigartiger Versuch einer zentralen Koordinationsstelle, die es über einzelne Diösesan- und Verbandsebenen hinweg gestatten sollte, auf die durch die ganz neue Qualität von Mobilität resultierenden neuen seelsorglichen Herausforderungen zu reagieren und Reichsweit zu operieren.
Über die konkrete Arbeit und Organisation vor Ort, Fragen der Finanzierung, die einzelnen Mitarbeiter(innen) oder die Schwierigkeiten, auf welche der Seelsorgsdienst und dessen Mitarbeiter von staatlicher Seite aber auch seitens der Gläubigen stießen, ist jedoch bis heute kaum genaueres bekannt. Vielmehr ist die Thematik der „Wandernden Kirche“ in der Kirchen- und Zeitgeschichtsforschung fast unbeachtet geblieben[6], was angesichts der unablässigen Veröffentlichungen über die Katholischen Kirche im nationalsozialistischen Deutschland überrascht, zumal die eingehendere Beschäftigung mit dieser Thematik zu einer differenzierteren Verortung von Kirche und Katholizismus im Dritten Reich beitragen würde und eindrucksvoll das Bemühen dokumentiert, wie sich traditionelle kirchliche Seelsorge auf die Bedürfnisse einer mobiler werdenden Gesellschaft und die damit verbundenen sozialen, ökonomischen und nicht zuletzt religiösen Herausforderungen einzustellen versuchte.
Näherhin finden sich die bislang umfassendsten und von einer eher „subjektiven“ Wahrnehmung gekennzeichneten Darstellungen über die Wandernden Kirche fast ausschließlich in den mehr als vierzig Jahre zurückliegenden Publikationen von H. J. Schmitt[7], einem der leitenden Mitarbeiter des Seelsorgsdienstes[8]. Darüber hinaus existieren lediglich einige folienhafte und mit zunehmend jüngeren Datums knapper werdende Beiträge in Nachschlagewerken und Lexika[9], die hauptsächlich nur auf die Jugendarbeit des Seelsorgsdienstes eingehen. Ähnliches gilt für die verstreuten marginalen Erwähnungen zur „Wandernden Kirche“ in einschlägigen Monographien[10]. Wegweisend sind einzig die Darstellungen über die Organisation der Seelsorge der „WK“ auf Ebene der Diözesen Aachen und Hildesheim[11].
Allen Publikationen gemeinsam ist das Bedauern über die bisher fehlende grundlegende Darstellung des Katholischen Seelsorgsdienstes überhaupt, was sicherlich mit der durch die Kriegswirren vernichteten Überlieferung der Zentralstelle in Berlin zusammenhängen dürfte. Anfragen an die deutschen Diözesanarchive ergaben jedoch ein sehr positives Bild über die Quellenlage zum Katholischen Seelsorgsdienst für die Wandernde Kirche. In fast allen Archiven befinden sich einschlägige Faszikel, so dass trotz der fehlenden Zentralüberlieferung in einer kritischen Zusammenschau von mehreren Diözesan- und Staatsarchiven ein aussagekräftiger Quellenbestand zusammengetragen werden kann, der eine weitgehend komplette Rekonstruktion der Tätigkeiten des Seelsorgsdienstes ermöglichen dürfte.
Ziel des Projekts ist eine erste grundlegende Darstellung über das Wirken des Seelsorgsdienstes zu geben und künftigen Forschungsvorhaben einen „Handapparat“ mit den wichtigsten Grunddaten und -fakten zur Verfügung zu stellen. Hierfür soll eine mit ausführlicher Einleitung versehene, kommentierte Edition der wichtigsten Dokumente erstellt werden. Hauptsächlich sollen in dieser Sammlung die vom Seelsorgsdienst verfassten und an die einzelnen Diözesen versandten Jahres- und Lageberichte über den Stand der Seelsorge an der ‚Wandernden Kirche’ ediert und veröffentlicht werden. Allein diese Berichte vermitteln interessante und aussagekräftige Einblicke in die Arbeit des Seelsorgsdienstes, wie beispielsweise über die finanzielle Situation oder die Herkunft und den Einsatz der Mitarbeiter. Überdies enthalten sie Erfahrungsberichte der Seelsorger wie auch Verhandlungsergebnisse mit den Reichsbehörden oder Angaben über die rechtlichen Möglichkeiten der Seelsorge: Insgesamt also hochinteressante zeitgeschichtliche Dokumente, die wahrscheinlich nur aufgrund der genannten disparaten Überlieferung in den unterschiedlichen Archiven bisher nicht in ihrer Gesamtheit beachtet wurden.
Um die Bedeutung des hier beantragten Projektes für die Kirchen- und Zeitgeschichte zu verdeutlichen, sei auf folgende, sich aus einer eingehenderen Beschäftigung mit dem Seelsorgsdienst erschließbaren Fragekreise hingewiesen, die im Kontext der andauernden Diskussionen um das Verhalten der Katholiken im III. Reich zu einem differenzierteren Bild beitragen dürften:
Auf der anderen Seite wird sich aber auch zeigen, wie trotz einer kirchen- und insbesondere katholizismusfeindlichen Umgebung Zeugnis und Widerstand aussehen konnte und wie sich Katholiken über alle regionalen, nationalen und sprachlichen Barrieren hinweg für ihren Glauben einzusetzen vermochten und in von Nationalsozialisten neuerschlossenen Industriegebieten die Seelsorgsstrukturen – quasi den Industriekomplexen gleich – aus den „Boden stampften“[15].
(Thomas Flammer)
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[1]
Vgl. Protokoll der Plenarkonferenz des deutschen Episkopates v. 5.-7. Juni
1934, in: Bernhard Stasiewski (Bearb.),
Akten Deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945, Bd. 1:
1933-1934, (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 5),
Mainz 1968, S. 676-681, Nr. 155/II.
[2]
Hermann Joseph Schmitt, Die
Binnenwanderung innerhalb der katholischen Kirche als Moraltheologisches und
Pastoraltheologisches Problem. Eine Moraltheologische und Soziologische
Untersuchung (Diss. Masch.), Tübingen 1942, 74.
[3]
Der Begriff wurde im Jahr 1934 durch Bischof M. Kaller geprägt.
[4]
Konrad Algermissen, Art.
Wandernde Kirche, in: LThK1 10 (1938), Sp. 748f.
[5]
Siehe hierzu das Protokoll der Plenarkonferenz des deutschen Episkopates v.
5.-7. Juni 1934 (wie Anm. 1), S. 681, Nr. 155/II.
[6]
Hierauf wies neuestens wieder der Historiker Hans Günter Hockerts hin. Vgl.
Hans Günter Hockerts,
Ausblick: Kirche im Krieg. Aspekte eines Forschungsfeldes, in: Peter Pfister
(Hg.), Katholische Kirche und Zwangsarbeit. Stand und Perspektiven der
Forschung (Schriften des Archivs des Erzbistums München und Freising 1),
Regensburg 2001, S. 47-55, S. 55.
[7]
Vgl. Hermann Josef Schmitt, Von
der „Wandernden Kirche“, in: Theologie und Glaube. Zeitschrift für den
katholischen Klerus 31 (1939), S. 307-326; Ders.,
Binnenwanderung und katholische Kirche (Wandernde Kirche), in: Kirchliches
Handbuch für das katholische Deutschland 22 (1943), S. 220-238; Ders.,
Der „Katholische Seelsorgsdienst“ für die „Wandernde Kirche“. Eine
Einrichtung der Deutschen Bischöfe zur Zeit des Nationalsozialismus, in:
Wilhelm Corsten – Augustinus Frotz
– Peter Linden (Hg.), Die Kirche und ihre Ämter und Stände
(Festschrift für Joseph Kardinal Frings),
Köln 1960, S. 600-636. Genannt seien an dieser Stelle auch folgende fast
vergriffene Veröffentlichungen: Schmitt,
Die Binnenwanderung innerhalb der Katholischen Kirche (wie Anm. 2); Die
Wandernde Kirche. Praktische Winke für Seelsorger, Eltern und
Seelsorgshelfer über Arbeitsdienst, Landhilfe, Landjahr, Wanderarbeiter,
Stadtrand- und Streusiedlung. Hrsg. vom Katholischen Seelsorgsdienst, Berlin
²1935; Maxilian Kaller,
Wachsende Sorge um die „Wandernde Kirche, in: Priesterjahrheft des
Bonifatiusvereins, Paderborn 1940, 4-14.
[8] Zur
Person Schmitt vgl. Thomas Flammer,
Art. Hermann Joseph Schmitt, in: BBKL 20 (erscheint in Kürze).
[9]
Algermissen, Wandernde Kirche (wie Anm. 4), Sp. 748f; K. Winkler,
Art. Wandernde Kirche, in: LThK² 10 (1965), Sp. 953f.; Erwin Gatz,
Art. Wandernde Kirche, in: LThK³ 10 (2001), Sp. 974.
[10]
Christoph Kösters, Katholische
Verbände und moderne Gesellschaft. Organisationsgeschichte und
Vereinskultur im Bistum Münster 1918 bis 1945 (Veröffentlichungen der
Kommission für Zeitgeschichte, B 68), Paderborn u.a. 1995, S. 487- 494;
Hans Georg Aschoff, Diaspora, in: Erwin Gatz
(Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern
seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die katholische Kirche, Bd. 3:
Katholiken in der Minderheit. Diaspora – Ökumenische Bewegung -
Missionsgedanke, Freiburg i.Br. – Basel – Wien 1994, S. 39-142, hier
104-107; Gerhard Reifferscheid, Das Bistum Ermland und das Dritte Reich
(Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands. Beiheft 1 =
Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 7), Köln – Wien 1975, S. 85-96.
Hans-Georg Aschoff, Diaspora in Deutschland von der Säkularisation bis
zur Gründung der Bundesrepublik, in: Günter
Riße – Clemens A. Kathke
(Hg.), Diaspora: Zeugnis von Christen für Christen. 150 Jahre
Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken, Paderborn 1999, S. 253-273, bes.
263f. Erwin Gatz, Die Pfarrei
unter dem Einfluss des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges, in: Ders.,
Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts. Die katholische Kirche, Bd. 1: Die Bistümer und
ihre Pfarreien, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 1992, S. 123-138, S.
128f.
[11]
August Brecher, Sorge um die
„Wandernde Kirche“ im Bistum Aachen 1934-1945, in: Geschichte des
Bistums Aachen, Bd. 2. Hrsg. vom Geschichtsverein für das Bistum Aachen
e.V., Kevelaer 1994, S. 317-410; Thomas Scharf-Wrede,
Caritas und „Wandernde Kirche“ – Seelsorge vor Ort, in: Hans Otte
– Thomas Scharf-Wrede (Hg.),
Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiele aus Niedersachsen (Veröffentlichungen
des Landschaftsverbandes Hildesheim e.V. 12), Hildesheim – Zürich – New
York 2001, S. 291-307.
[12]
Grundlegend hierzu: Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte Münster (AKKZG),
Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als
Forschungsaufgabe, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), S. 588-654;
AKKZG Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert. Ein Erklärungsmodell zur
Regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland, in:
Historisches Jahrbuch 120 (2000), S. 358-395.
[13]
Referat Kallers über die Wandernde Kirche v. 22. August 1940, in: Ludwig Volk
– Bernhard Stasiewski (Bearb.),
Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 – 1945, Bd. 5:
1940-1942, (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, A 34),
Mainz 1983, S. 136-141, Nr.
578/II h.
[14]
Vgl. hierzu den Bericht des Katholischen Seelsorgsdienstes über die
Arbeitstagung am 6./7. April 1943 zu Berlin. Historisches Archiv des
Erzbistums Köln, Bestand Dienstakten Lenné Nr. 184, S. 7f; 16-19.
[15]
Thomas Flammer, Katholische
Kirche im Schatten der Hermann-Göring-Werke, in: Die Diözese Hildesheim in
Vergangenheit und Gegenwart. Jahrbuch des Vereins für Geschichte und Kunst
im Bistum Hildesheim 68 (2000), S. 371-378.
[16]
Bericht über die Konferenz des Katholischen Seelsorgdienstes für die
Wandernde Kirche am 12. Dezember 1939 im Bischöflichen Ordinariat zu
Berlin. Bistumsarchiv Hildesheim, Bestand G II neu 702, S. 3.
[17]
Hans Mommsen – Manfred Grieger,
Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996;
Brunello Mantelli, Camerati del
Lavoro. I lavoratori italiani emigrati nel Terzio Reich nel
periodo dell’Asse 1938-1943 (Phil. Diss.), Turin 1991.
[18]
Vgl. Bericht über die Konferenz des Katholischen Seelsorgdienstes für die
Wandernde Kirche am 12. Dezember 1939 (wie Anm. 16), S. 1.
[19]
Vgl. ebd., S. 3.