Die zwei
Sündenfälle Europas
in der Neuzeit
Der
Nationalismus
Die
Ausschließlichkeit
der technischen Vernunft und die Zerstörung des Ethos
Der
Auftrag
Staat
und Gesellschaft
Die zwei Sündenfälle Europas in der Neuzeit *
Beginnen wir also mit der ersten
Frage:
Die
Ausschließlichkeit der technischen Vernunft
Der Europa-Gedanke wurde nach dem
Zweiten
Weltkrieg formuliert, um die nationalistische Häresie
endgültig zu bannen
und ein neues Prinzip der Politik zu gewinnen, das nicht auf
gegenseitige
Ausschließung, sondern auf Ergänzung und Kooperation
abzielt. Obwohl
der Nationalismus in Europa geboren wurde und insofern eine
europäische
Häresie ist, dürfen wir doch die erneuerte Idee des einen
Europa als
Gegenkraft gegen diesen Irrweg unserer Geschichte ansehen und allen
Rückfallversuchen
entschieden entgegensetzen. Die Gefahr des Nationalismus ist zwar nicht
einfach überwunden, aber sie ist - wir hoffen es - doch nicht die
eigentliche
Versuchung unserer Stunde. Die beruht auf einem zweiten
Sündenfall, dem
wir nun auf den Grund zu gehen versuchen müssen. Gemeint ist die
in den
extremen Formen des Nationalismus schon anklingende Verbindung von
Fortschrittsglaube,
Absolutsetzung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und
Verheißung
der neuen Menschheit, des messianischen Reichs.
Joseph Ratzinger,
Europa - Hoffnungen und Gefahren, Sonderdruck Speyer 1990; wieder
abgedruckt
in Joseph Cardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Einsiedeln,
Freiburg
1991, S.87-93.
Was folgt aus
alledem
für die Gesellschaft und für die Kirche bei uns? Was
müssen wir tun?
J. Ratzinger, Wendezeit für
Europa, in:
KNA ÖkI 14/15 (1991) 5-16; wieder abgedruckt in Joseph Cardinal
Ratzinger,
Wendezeit für Europa? Einsiedeln, Freiburg 1991, S. 105-127, 123.
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1) A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums. 1900,
JubilÄumsausgabe (Stuttgart 1950) 113-117.
Welches sind die Sünden Europas und der Europäer, die sich
möglichst
nicht wiederholen oder fortsetzen sollten?
Es wäre gewiß nicht schwer, einen langen Katalog von
Verfehlungen
aufzuzählen.
Ich möchte das Negative in zwei großen Stichworten
zusammenfassen,
die sich im übrigen auf das gegenwärtig noch Wirksame oder
Drohende konzentrieren,
also auf das nach der Französischen Revolution entstandene Europa
der
Neuzeit im engeren Sinn bezogen sind.
Den ersten Komplex von Verfehlungen
möchte
ich unter dem schon mehrfach gefallenen Stichwort Nationalismuszusammenfassen.
Dies ist keine ganz neue Sünde; es ist nur die moderne
Radikalisierung
des Tribalismus, also eines Urlasters der Menschheit. Tribalismus steht
als Verhängnis in der archaischen Geschichte; seine blutige Spur
durchzieht
die Jahrtausende. Aber dieses alte Laster gewinnt im europäischen
Nationalismus
des 19. und 20. Jahrhunderts eine neue Dimension, und dies auf
zweifache
Weise.
Das Gebilde Nation ist im Lauf des
Mittelalters
und der frühen Neuzeit in einem komplizierten Prozeß
kultureller und
politischer Angleichung innerhalb stammesverwandter Räume
gewachsen. Es
präsentiert sich zum ersten Mal deutlich in der Französischen
Revolution,
in der die monarchische Einheit durch die nationale ersetzt wird. Im
Lauf
des 19. Jahrhunderts konstituieren sich Deutschland und Italien als
Nationen,
während in Spanien und Großbritannien die lange Geschichte
eines weltweiten
kolonialen Ausgriffs ein entsprechendes Unterscheidungs- und
Sendungsbewußtsein
hatte reifen lassen. Auch Polen findet in den Aufständen des 19.
Jahrhunderts
zum Bewußtsein seiner selbst als Nation; in Rußland war es
nicht zuletzt
die slawophile Theologie, die den Gedanken eines Gottträgervolkes
und
damit ein religiös geprägtes russisches
Nationalbewußtsein geformt hatte.
In Mitteleuropa hatte sich nach der von Preußen getragenen
Gestaltwerdung
eines deutschen Nationalstaats mit Österreich-Ungarn ein letztes
Großgebilde
erhalten, das nicht auf dem nationalen Prinzip beruhte. Das politische
Hauptergebnis des Ersten Weltkriegs war die Liquidierung dieses letzten
Restes einer früheren Staatsordnung und der Versuch, Europa nun
endlich
rigoros unter der nationalen Idee neu zu strukturieren - ein Vorgang
voll
innerer Widersprüche, der dann im Paroxysmus des
nationalsozialistischen
Wahns sein grauenvolles Finale fand.
Was aber war das Neue an diesem
Konstruktionsprinzip?
Zunächst dies, daß in geringerem oder größerem
Maß bei den europäischen
Völkern eine mythische
Überhöhung der eigenen
Nation vor sich ging. Eine jede davon empfand sich nun
selbst
als maßstäblich für die Verwirklichung des eigentlich
Humanen und erhob
darum den Anspruch, ihre eigene Lebensform und damit ihre Macht in der
ganzen übrigen Welt zur Geltung zu bringen. Man könnte von
einer eigentümlichen
Verbindung zwischen Nationalismus und Universalismus sprechen: Die
Einheit
der Welt sollte im Zeichen der eigenen Nation entstehen; sie beruhte
auf
dem Vorrang des Eigenen und nicht auf dem Ausgleich des Ganzen. Das
»Gott
mit uns« war Ausdruck einer Vereinnahmung
des Heiligen,
in der man die Kräfte des Christlichen fürs Nationale zu
mobilisieren
versuchte. Das je eigene Christentum galt als das reinere, wie dies zum
Beispiel Harnack in seiner Gegenüberstellung der drei
Grundgestalten des
Christlichen - der römischen, der germanischen und der
byzantinisch-slawischen
- geradezu klassisch dargestellt hatte.(1)
Merken
wir dabei nur in Klammern an, daß das Selbstbewußtsein des
germanischen
Christentums gegenüber dem romanischen und dem slawischen auch
heute ungebrochen
ist und über den Verlust der religiösen Substanz hinaus als
Mythos weiterwirkt
und Emotionen begünstigt, die der Einheit im Wege stehen.
Diese Mythisierung des Nationalen hat
ihre eigentliche Sprengkraft dadurch gewonnen, daß sie sich mit
dem Fortschrittsglauben
und mit dem Mythos der technischen Welt verband. Die Lebensgestalt der
eigenen Nation zeigt danach den Weg, auf den der Fortschritt weist;
alle
anderen erscheinen als weniger fortgeschritten und müssen daher
denselben
Weg nachgehen. Die Macht der wirtschaftlich-technischen Zivilisation
hat
den so programmierten Auseinandersetzungen ihre weltweite
zerstörerische
Gewalt gegeben; sie hat den archaischen
tribalistischen
Affekt mit ihrer Pseudorationalität zur Menschheitsbedrohung
werden lassen.
In diesem Zusammenhang müßte vom Kolonialismus
und von seinem Export europäischer Kriege in die fremden Erdteile
gesprochen
werden; es müßte auch die neue Dimension der Sklaverei
bedacht werden,
die im Zusammenhang der großen Entdeckungen der frühen
Neuzeit ausgebildet
wurde und nun als Hypothek der Schuld auf der europäischen und der
amerikanischen
Geschichte lastet.
und die Zerstörung des Ethos
Am konsequentesten durchgebildet war diese dreifache Verknüpfung
zu
einem politischen Mythos von fast unwiderstehlicher Kraft ohne Zweifel
im Marxismus. Deswegen sind nicht wenige europäische
Intellektuelle ratlos,
wenn sie nun versuchen sollen, ohne ihn auszukommen, zumal ihr eigenes
Unschuldsbewußtsein und die Übersichtlichkeit der
Schuldzuweisungen eng
mit dieser mythologischen Synthese verknüpft waren. Wieweit es in
diesem
geistigen Klima Restaurationen des Marxismus geben wird, ist im
Augenblick
nicht abzusehen; ein Bedarf dafür könnte auch dadurch
entstehen, daß
er den verlorenen christlichen Glauben durch eine Dynamik der Hoffnung
zu ersetzen schien, die sich schon zu einer Art von nachchristlicher
Religion
aufgeschwungen hatte. Einstweilen bleibt zu hoffen, daß der
Schmerz der
Befreiten, alles, was sie durchlitten und durchschritten haben,
eindringlich
genug zur Welt spricht, um weittragendere Formen der Restauration zu
verhindern.
Wenn das Geschehene zum Heil werden
soll,
müssen wir uns allerdings bewußt werden, daß der
Marxismus nur die radikale
Durchführung eines ideologischen Konzepts war, das auch ohne ihn
weitgehend
die Signatur unseres Jahrhunderts bestimmt. Wir hatten vorhin sein
politisches
und geschichtliches Wesen zu fassen versucht, indem wir ihn als die
Verknüpfung
von Fortschrittsglaube, verabsolutierter wissenschaftlich-technischer
Zivilisation
und politischem Messianismus darstellten. Das Bemerkenswerte an dieser
seltsamen Trinität ist aber nun, daß dieses Gefüge den
Gottesbegriff
ersetzt und ihn notwendig ausschließt, da es ja an seine Stelle
tritt.
Dieser systematische Ausschluß des Göttlichen aus der
Gestaltung von
Geschichte und Menschenleben unter Berufung auf die Endgültigkeit
wissenschaftlicher
Einsicht ist vielleicht das eigentlich Neue und zugleich das wahrhaft
bedrohliche
Element an jenem seltsamen Produkt Europas, das wir Marxismus nennen.
Ich
behaupte nun, daß auch außerhalb des marxistischen Denkens
in der Lebenswelt
des Westens diese gleiche Kombination in weniger strengen Formen
wirksam
ist. Wenn es ihr gelingen sollte, sich endgültig durchzusetzen, so
wäre
dies einerseits Eurozentrismus im schlechten Sinn des Wortes,
andererseits
aber auch zugleich das Ende dessen, was Europa zu einer positiven Kraft
in der Welt machen könnte.
Dem wird man sofort entgegenhalten,
daß
heute das Ressentiment gegen Technik und Wissenschaft immer mehr um
sich
greife und daß der Fortschrittsglaube längst einer
resignierten Skepsis
gewichen sei. Aber Ressentiment und Skepsis sind keine Fundamente, auf
die man bauen kann; sie taugen nicht zur Überwindung von Ideen,
über
die man nur durch ein größeres und besseres Ja, nicht durch
Negationen
und Halbherzigkeiten hinauskommt. Tatsächlich werden sich Technik
und
Wissenschaft mit einer immanenten Notwendigkeit auch in Zukunft
fortentwickeln,
und ebenso ist ihre Weitergabe logische Folge ihrer Universalität.
Sie
kann nicht durch den romantischen Traum verbleibender vortechnischer
Paradiese
begrenzt werden, mit dem man anderen verweigern will, was man selbst
nicht
missen möchte. Bessere Mittel müssen gefunden werden, ihre
Schäden zu
begrenzen. Das Weitergehen der technischen Entwicklung wird aber auch
dafür
sorgen, daß der Fortschrittsglaube nicht ausstirbt und damit in
wechselnden
Formen auch der politische Messianismus lebendig bleibt: Irgendwann und
irgendwie müsse es doch gelingen, endlich einmal die bessere Welt
und
den neuen Menschen zu schaffen - wer wagt sich eigentlich diesem Traum
zu entziehen, der inzwischen zur eigentlichen Menschheitshoffnung und
-tröstung
geworden ist? Wer dies tut, würde heute ungefähr so angesehen
wie ehedem
der Atheist - als Leugner dessen, was überhaupt die Welt im Gange
hält.
Beides zusammen aber, der technische
Fortschritt und der Glaube, von ihm her lasse sich die neue Welt
konstruieren,
zieht ganz logisch die Meinung nach sich, man müsse Gott aus dem
Geschichtshandeln
herauslassen und die Vorstellung darüber, ob es ihn gebe und wer
er sei,
ganz in den Bereich des Privaten und damit Beliebigen abschieben. In
diesem
Sinn wird der Bereich der Religion zum eigentlichen Ort der Toleranz:
Heilig
muß ihr vor allem sein, daß sie aus diesem Toleranzbereich
des bloß
Privaten nicht heraustritt und nicht Öffentlichkeitsrechte in
Anspruch
nimmt. Das alles aber bedeutet, daß Europa Mechanik ohne Ethos
und letztlich
gegen das Ethos exportiert; daß mit der Übermacht der
technischen Fortschrittsideologie
jene großen sittlichen Traditionen zerstört werden, auf
denen die alten
Gesellschaften beruhten, während die dunklen Praktiken des Zaubers
und
der Magie fortbestehen oder sogar verstärkten Einfluß
gewinnen. Es bedeutet
weiterhin, daß der Geist des Habens, des Machens und der Flucht
ins Morgen
mit seiner leeren Verheißung weltweit werden. Es bedeutet eine
Einheit
der Menschheit, die zugleich ihre wahrhaft vereinigenden Kräfte
und Ehre
großen gemeinsamen sittlichen Grundüberzeugungen zum
Erlöschen bringt.
Robert Spaemann hat die Frage präzis formuliert, um die es hier
geht:
»Kann Europa es ... verantworten, durch die Universalisierung
wissenschaftlicher
Vergegenständlichung der Welt und zweckrationaler Organisation des
Lebens
alle traditionellen Kulturen zu zerstören, dasjenige aber für
sich zu
behalten, was allein diese Zerstörung... kompensieren kann: den
Gedanken
des Unbedingten. Dieser Gedanke ist in seinem Kern und Ursprung der
Gottesgedanke."(2)
Tatsächlich werden die Folgen der
Zerstörung
ethischer Grundlagen heute dramatisch sichtbar in der epidemischen
Ausbreitung
einer Zivilisation des Todes. Die Droge ist der Versuch, die
künftig erst
zu bauende Welt heute schon zu antizipieren. Dies ist ganz logisch,
denn
keiner der Bauleute wird diese Welt erleben. So muß er sie sich
vorweg
auf andere Weise erschließen. Die Länder, die von der
Erzeugung der Droge
leben, sind jenen, die sie verbrauchen, in einer Straße des Todes
verbunden,
die immer breiter wird und sich immer weniger zu verstecken braucht.
Terrorismus
bedarf heute keiner ideologischen Beschönigung mehr; er zeigt sich
nackt
als die
Selbstverständlichkeit der Gewalt,
die
sich durch ihre Erfolge rechtfertigt. Räuberbanden fordern den
Staat heraus
und können sich als eine Art Gegenstaat etablieren. Im
übrigen haben
wir in unserem Jahrhundert auch schon den nächsten Schritt erlebt:
Staaten,
die in die Hände von Räuberbanden gefallen sind - besonders
augenfällig
im Reiche Hitlers, aber unbestreitbar auch dort, wo ein Archipel Gulag
Ausdruck staatlicher Unterdrückungsmacht wurde.
Was die Gesellschaft angeht, so sollten wir aufgrund der Erfahrungen
besonders der letzten zwei Jahrzehnte mehr als bisher zur Kenntnis
nehmen,
was Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung genannt
haben.(3)
Damit ist die »rastlose Selbstzerstörung der
Aufklärung« gemeint, die
sich zuträgt, wo Aufklärung sich absolut setzt und nur noch
das Berechenbare,
das Erklärbare erkennen will, das Unverfügbare aber leugnet
oder ins
bloß Private abdrängt. Anders gesagt: Eine Gesellschaft, die
in ihrer
öffentlichen Struktur agnostisch und materialistisch gebaut ist
und alles
Übrige lediglich unterhalb der Schwelle des Öffentlichen
bestehen lassen
will, überlebt auf Dauer nicht. Wenn wir das Problem der Gegenwart
und
so deren Herausforderung auf einen bündigen Nenner bringen wollen,
so
würde ich sagen, daß es in der doppelten Auflösung des
Moralischen besteht,
die bei uns bisher unaufhaltsam voranzuschreiten scheint: in der
Privatisierung
der Moral einerseits und in ihrer Reduktion auf das Kalkül des
Erfolgreichen,
dessen, was die besseren Überlebenschancen verspricht
andererseits. Damit
wird eine Gesellschaft in ihrem öffentlichen und
gemeinschaftlichen Wesen
zu einer morallosen Gesellschaft oder, anders gesagt, zu einer
Gesellschaft,
in der das nicht zählt, was eigentlich dem Menschen Würde
gibt und ihn
als Menschen konstituiert.
Der erste und dringendste Imperativ
scheint
mir also zu sein, daß der Rang des Moralischen in seiner
Unverletzlichkeit
und Würde wieder erkannt wird...
zurück zum Anfang
2) R. Spaemann, Universalismus oder Eurozentrismus?
in: K. Michalski (Hg.), Europa und die Folgen (Stuttgart 1988) 313-322.
Zitat 320f.
3) M. Horkheimer - Th. W. Adorno, Dialektik der
Aufklärung
(Fischer-Taschenbuch 6144) 1. Ich entnehme dieses Zitat und die
folgenden
dem bemerkenswerten Aufsatz von H. Staudinger, Christentum und
Aufklärung,
in: Forum Katholische Theologie 6 (1990) 192-206. Zitat 199.