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Die zwei Sündenfälle Europas in der Neuzeit
Der Nationalismus
Die Ausschließlichkeit der technischen Vernunft und die Zerstörung des Ethos
Der Auftrag
Staat und Gesellschaft

Die zwei Sündenfälle Europas in der Neuzeit *

Der Nationalismus

Beginnen wir also mit der ersten Frage:
Welches sind die Sünden Europas und der Europäer, die sich möglichst nicht wiederholen oder fortsetzen sollten?
Es wäre gewiß nicht schwer, einen langen Katalog von Verfehlungen aufzuzählen.
Ich möchte das Negative in zwei großen Stichworten zusammenfassen, die sich im übrigen auf das gegenwärtig noch Wirksame oder Drohende konzentrieren, also auf das nach der Französischen Revolution entstandene Europa der Neuzeit im engeren Sinn bezogen sind.
Den ersten Komplex von Verfehlungen möchte ich unter dem schon mehrfach gefallenen Stichwort Nationalismuszusammenfassen. Dies ist keine ganz neue Sünde; es ist nur die moderne Radikalisierung des Tribalismus, also eines Urlasters der Menschheit. Tribalismus steht als Verhängnis in der archaischen Geschichte; seine blutige Spur durchzieht die Jahrtausende. Aber dieses alte Laster gewinnt im europäischen Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts eine neue Dimension, und dies auf zweifache Weise. 
Das Gebilde Nation ist im Lauf des Mittelalters und der frühen Neuzeit in einem komplizierten Prozeß kultureller und politischer Angleichung innerhalb stammesverwandter Räume gewachsen. Es präsentiert sich zum ersten Mal deutlich in der Französischen Revolution, in der die monarchische Einheit durch die nationale ersetzt wird. Im Lauf des 19. Jahrhunderts konstituieren sich Deutschland und Italien als Nationen, während in Spanien und Großbritannien die lange Geschichte eines weltweiten kolonialen Ausgriffs ein entsprechendes Unterscheidungs- und Sendungsbewußtsein hatte reifen lassen. Auch Polen findet in den Aufständen des 19. Jahrhunderts zum Bewußtsein seiner selbst als Nation; in Rußland war es nicht zuletzt die slawophile Theologie, die den Gedanken eines Gottträgervolkes und damit ein religiös geprägtes russisches Nationalbewußtsein geformt hatte. In Mitteleuropa hatte sich nach der von Preußen getragenen Gestaltwerdung eines deutschen Nationalstaats mit Österreich-Ungarn ein letztes Großgebilde erhalten, das nicht auf dem nationalen Prinzip beruhte. Das politische Hauptergebnis des Ersten Weltkriegs war die Liquidierung dieses letzten Restes einer früheren Staatsordnung und der Versuch, Europa nun endlich rigoros unter der nationalen Idee neu zu strukturieren - ein Vorgang voll innerer Widersprüche, der dann im Paroxysmus des nationalsozialistischen Wahns sein grauenvolles Finale fand.
Was aber war das Neue an diesem Konstruktionsprinzip? Zunächst dies, daß in geringerem oder größerem Maß bei den europäischen Völkern eine mythische Überhöhung der eigenen Nation vor sich ging. Eine jede davon empfand sich nun selbst als maßstäblich für die Verwirklichung des eigentlich Humanen und erhob darum den Anspruch, ihre eigene Lebensform und damit ihre Macht in der ganzen übrigen Welt zur Geltung zu bringen. Man könnte von einer eigentümlichen Verbindung zwischen Nationalismus und Universalismus sprechen: Die Einheit der Welt sollte im Zeichen der eigenen Nation entstehen; sie beruhte auf dem Vorrang des Eigenen und nicht auf dem Ausgleich des Ganzen. Das »Gott mit uns« war Ausdruck einer Vereinnahmung des Heiligen, in der man die Kräfte des Christlichen fürs Nationale zu mobilisieren versuchte. Das je eigene Christentum galt als das reinere, wie dies zum Beispiel Harnack in seiner Gegenüberstellung der drei Grundgestalten des Christlichen - der römischen, der germanischen und der byzantinisch-slawischen - geradezu klassisch dargestellt hatte.(1)  Merken wir dabei nur in Klammern an, daß das Selbstbewußtsein des germanischen Christentums gegenüber dem romanischen und dem slawischen auch heute ungebrochen ist und über den Verlust der religiösen Substanz hinaus als Mythos weiterwirkt und Emotionen begünstigt, die der Einheit im Wege stehen. 
Diese Mythisierung des Nationalen hat ihre eigentliche Sprengkraft dadurch gewonnen, daß sie sich mit dem Fortschrittsglauben und mit dem Mythos der technischen Welt verband. Die Lebensgestalt der eigenen Nation zeigt danach den Weg, auf den der Fortschritt weist; alle anderen erscheinen als weniger fortgeschritten und müssen daher denselben Weg nachgehen. Die Macht der wirtschaftlich-technischen Zivilisation hat den so programmierten Auseinandersetzungen ihre weltweite zerstörerische Gewalt gegeben; sie hat den archaischen tribalistischen Affekt mit ihrer Pseudorationalität zur Menschheitsbedrohung werden lassen. In diesem Zusammenhang müßte vom Kolonialismus und von seinem Export europäischer Kriege in die fremden Erdteile gesprochen werden; es müßte auch die neue Dimension der Sklaverei bedacht werden, die im Zusammenhang der großen Entdeckungen der frühen Neuzeit ausgebildet wurde und nun als Hypothek der Schuld auf der europäischen und der amerikanischen Geschichte lastet.
 
 

Die Ausschließlichkeit der technischen Vernunft
und die Zerstörung des Ethos

Der Europa-Gedanke wurde nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert, um die nationalistische Häresie endgültig zu bannen und ein neues Prinzip der Politik zu gewinnen, das nicht auf gegenseitige Ausschließung, sondern auf Ergänzung und Kooperation abzielt. Obwohl der Nationalismus in Europa geboren wurde und insofern eine europäische Häresie ist, dürfen wir doch die erneuerte Idee des einen Europa als Gegenkraft gegen diesen Irrweg unserer Geschichte ansehen und allen Rückfallversuchen entschieden entgegensetzen. Die Gefahr des Nationalismus ist zwar nicht einfach überwunden, aber sie ist - wir hoffen es - doch nicht die eigentliche Versuchung unserer Stunde. Die beruht auf einem zweiten Sündenfall, dem wir nun auf den Grund zu gehen versuchen müssen. Gemeint ist die in den extremen Formen des Nationalismus schon anklingende Verbindung von Fortschrittsglaube, Absolutsetzung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und Verheißung der neuen Menschheit, des messianischen Reichs.
Am konsequentesten durchgebildet war diese dreifache Verknüpfung zu einem politischen Mythos von fast unwiderstehlicher Kraft ohne Zweifel im Marxismus. Deswegen sind nicht wenige europäische Intellektuelle ratlos, wenn sie nun versuchen sollen, ohne ihn auszukommen, zumal ihr eigenes Unschuldsbewußtsein und die Übersichtlichkeit der Schuldzuweisungen eng mit dieser mythologischen Synthese verknüpft waren. Wieweit es in diesem geistigen Klima Restaurationen des Marxismus geben wird, ist im Augenblick nicht abzusehen; ein Bedarf dafür könnte auch dadurch entstehen, daß er den verlorenen christlichen Glauben durch eine Dynamik der Hoffnung zu ersetzen schien, die sich schon zu einer Art von nachchristlicher Religion aufgeschwungen hatte. Einstweilen bleibt zu hoffen, daß der Schmerz der Befreiten, alles, was sie durchlitten und durchschritten haben, eindringlich genug zur Welt spricht, um weittragendere Formen der Restauration zu verhindern.

Wenn das Geschehene zum Heil werden soll, müssen wir uns allerdings bewußt werden, daß der Marxismus nur die radikale Durchführung eines ideologischen Konzepts war, das auch ohne ihn weitgehend die Signatur unseres Jahrhunderts bestimmt. Wir hatten vorhin sein politisches und geschichtliches Wesen zu fassen versucht, indem wir ihn als die Verknüpfung von Fortschrittsglaube, verabsolutierter wissenschaftlich-technischer Zivilisation und politischem Messianismus darstellten. Das Bemerkenswerte an dieser seltsamen Trinität ist aber nun, daß dieses Gefüge den Gottesbegriff ersetzt und ihn notwendig ausschließt, da es ja an seine Stelle tritt. Dieser systematische Ausschluß des Göttlichen aus der Gestaltung von Geschichte und Menschenleben unter Berufung auf die Endgültigkeit wissenschaftlicher Einsicht ist vielleicht das eigentlich Neue und zugleich das wahrhaft bedrohliche Element an jenem seltsamen Produkt Europas, das wir Marxismus nennen. Ich behaupte nun, daß auch außerhalb des marxistischen Denkens in der Lebenswelt des Westens diese gleiche Kombination in weniger strengen Formen wirksam ist. Wenn es ihr gelingen sollte, sich endgültig durchzusetzen, so wäre dies einerseits Eurozentrismus im schlechten Sinn des Wortes, andererseits aber auch zugleich das Ende dessen, was Europa zu einer positiven Kraft in der Welt machen könnte.
Dem wird man sofort entgegenhalten, daß heute das Ressentiment gegen Technik und Wissenschaft immer mehr um sich greife und daß der Fortschrittsglaube längst einer resignierten Skepsis gewichen sei. Aber Ressentiment und Skepsis sind keine Fundamente, auf die man bauen kann; sie taugen nicht zur Überwindung von Ideen, über die man nur durch ein größeres und besseres Ja, nicht durch Negationen und Halbherzigkeiten hinauskommt. Tatsächlich werden sich Technik und Wissenschaft mit einer immanenten Notwendigkeit auch in Zukunft fortentwickeln, und ebenso ist ihre Weitergabe logische Folge ihrer Universalität. Sie kann nicht durch den romantischen Traum verbleibender vortechnischer Paradiese begrenzt werden, mit dem man anderen verweigern will, was man selbst nicht missen möchte. Bessere Mittel müssen gefunden werden, ihre Schäden zu begrenzen. Das Weitergehen der technischen Entwicklung wird aber auch dafür sorgen, daß der Fortschrittsglaube nicht ausstirbt und damit in wechselnden Formen auch der politische Messianismus lebendig bleibt: Irgendwann und irgendwie müsse es doch gelingen, endlich einmal die bessere Welt und den neuen Menschen zu schaffen - wer wagt sich eigentlich diesem Traum zu entziehen, der inzwischen zur eigentlichen Menschheitshoffnung und -tröstung geworden ist? Wer dies tut, würde heute ungefähr so angesehen wie ehedem der Atheist - als Leugner dessen, was überhaupt die Welt im Gange hält. 
Beides zusammen aber, der technische Fortschritt und der Glaube, von ihm her lasse sich die neue Welt konstruieren, zieht ganz logisch die Meinung nach sich, man müsse Gott aus dem Geschichtshandeln herauslassen und die Vorstellung darüber, ob es ihn gebe und wer er sei, ganz in den Bereich des Privaten und damit Beliebigen abschieben. In diesem Sinn wird der Bereich der Religion zum eigentlichen Ort der Toleranz: Heilig muß ihr vor allem sein, daß sie aus diesem Toleranzbereich des bloß Privaten nicht heraustritt und nicht Öffentlichkeitsrechte in Anspruch nimmt. Das alles aber bedeutet, daß Europa Mechanik ohne Ethos und letztlich gegen das Ethos exportiert; daß mit der Übermacht der technischen Fortschrittsideologie jene großen sittlichen Traditionen zerstört werden, auf denen die alten Gesellschaften beruhten, während die dunklen Praktiken des Zaubers und der Magie fortbestehen oder sogar verstärkten Einfluß gewinnen. Es bedeutet weiterhin, daß der Geist des Habens, des Machens und der Flucht ins Morgen mit seiner leeren Verheißung weltweit werden. Es bedeutet eine Einheit der Menschheit, die zugleich ihre wahrhaft vereinigenden Kräfte und Ehre großen gemeinsamen sittlichen Grundüberzeugungen zum Erlöschen bringt. Robert Spaemann hat die Frage präzis formuliert, um die es hier geht: »Kann Europa es ... verantworten, durch die Universalisierung wissenschaftlicher Vergegenständlichung der Welt und zweckrationaler Organisation des Lebens alle traditionellen Kulturen zu zerstören, dasjenige aber für sich zu behalten, was allein diese Zerstörung... kompensieren kann: den Gedanken des Unbedingten. Dieser Gedanke ist in seinem Kern und Ursprung der Gottesgedanke."(2)
Tatsächlich werden die Folgen der Zerstörung ethischer Grundlagen heute dramatisch sichtbar in der epidemischen Ausbreitung einer Zivilisation des Todes. Die Droge ist der Versuch, die künftig erst zu bauende Welt heute schon zu antizipieren. Dies ist ganz logisch, denn keiner der Bauleute wird diese Welt erleben. So muß er sie sich vorweg auf andere Weise erschließen. Die Länder, die von der Erzeugung der Droge leben, sind jenen, die sie verbrauchen, in einer Straße des Todes verbunden, die immer breiter wird und sich immer weniger zu verstecken braucht. Terrorismus bedarf heute keiner ideologischen Beschönigung mehr; er zeigt sich nackt als die
Selbstverständlichkeit der Gewalt, die sich durch ihre Erfolge rechtfertigt. Räuberbanden fordern den Staat heraus und können sich als eine Art Gegenstaat etablieren. Im übrigen haben wir in unserem Jahrhundert auch schon den nächsten Schritt erlebt: Staaten, die in die Hände von Räuberbanden gefallen sind - besonders augenfällig im Reiche Hitlers, aber unbestreitbar auch dort, wo ein Archipel Gulag Ausdruck staatlicher Unterdrückungsmacht wurde.
 

Joseph Ratzinger, Europa - Hoffnungen und Gefahren, Sonderdruck Speyer 1990; wieder abgedruckt in Joseph Cardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Einsiedeln, Freiburg 1991, S.87-93.
 
 

DER AUFTRAG

Staat und Gesellschaft

Was folgt aus alledem für die Gesellschaft und für die Kirche bei uns? Was müssen wir tun?
Was die Gesellschaft angeht, so sollten wir aufgrund der Erfahrungen besonders der letzten zwei Jahrzehnte mehr als bisher zur Kenntnis nehmen, was Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung genannt haben.(3) Damit ist die »rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung« gemeint, die sich zuträgt, wo Aufklärung sich absolut setzt und nur noch das Berechenbare, das Erklärbare erkennen will, das Unverfügbare aber leugnet oder ins bloß Private abdrängt. Anders gesagt: Eine Gesellschaft, die in ihrer öffentlichen Struktur agnostisch und materialistisch gebaut ist und alles Übrige lediglich unterhalb der Schwelle des Öffentlichen bestehen lassen will, überlebt auf Dauer nicht. Wenn wir das Problem der Gegenwart und so deren Herausforderung auf einen bündigen Nenner bringen wollen, so würde ich sagen, daß es in der doppelten Auflösung des Moralischen besteht, die bei uns bisher unaufhaltsam voranzuschreiten scheint: in der Privatisierung der Moral einerseits und in ihrer Reduktion auf das Kalkül des Erfolgreichen, dessen, was die besseren Überlebenschancen verspricht andererseits. Damit wird eine Gesellschaft in ihrem öffentlichen und gemeinschaftlichen Wesen zu einer morallosen Gesellschaft oder, anders gesagt, zu einer Gesellschaft, in der das nicht zählt, was eigentlich dem Menschen Würde gibt und ihn als Menschen konstituiert.

Der erste und dringendste Imperativ scheint mir also zu sein, daß der Rang des Moralischen in seiner Unverletzlichkeit und Würde wieder erkannt wird... 

J. Ratzinger, Wendezeit für Europa, in: KNA ÖkI 14/15 (1991) 5-16; wieder abgedruckt in Joseph Cardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Einsiedeln, Freiburg 1991, S. 105-127, 123.
 
 

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1) A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums. 1900, JubilÄumsausgabe (Stuttgart 1950) 113-117.
2) R. Spaemann, Universalismus oder Eurozentrismus? in: K. Michalski (Hg.), Europa und die Folgen (Stuttgart 1988) 313-322. Zitat 320f.
3) M. Horkheimer - Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (Fischer-Taschenbuch 6144) 1. Ich entnehme dieses Zitat und die folgenden dem bemerkenswerten Aufsatz von H. Staudinger, Christentum und Aufklärung, in: Forum Katholische Theologie 6 (1990) 192-206. Zitat 199.